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[ << | Inhalt | >> ]Ausgabe #177 vom 28.11.1999
Rubrik Feature

Es war einmal... ein Jahrhundert, Teil 2: Country & Folk-Music, American Yodeling 'Round And 'Round Hitler's Grave – The Early Years

"Mein Vater streichelt mir den blonden Schopf/ Er wollte, daß ich mal Minister werde/ Doch Kinder haben einen eig'nen Kopf..." (Howard Carpendale: "Bilder meines Lebens")

"Hankville 1952"
In der Nacht in der Hank Williams im Alter von 29 Jahren starb, begann das Jahr 1953 – die Country-Music war, wie sein bis heute wohl einflußreichster "Honky Tonker", noch keine 30 Jahre alt, denn der offizielle Startschuß für den Musikstil "Country-Music" fiel mit einer Handvoll Aufnahmen am 1. August 1927, abgegeben von einem gewissen James Charles Rodgers, allgemein bekannt als Jimmie Rodgers, der hier auch gleich einen seiner berühmten "Blue Yodels" einspielte, nämlich "Blue Yodel #1 – T For Texas". Am gleichen Tag – denn doppelt hält ja bekanntlich besser – stand im Studio auch die wohl berühmteste Country-Music-Familie: The Carter Family. Insgesamt vielleicht ein Dutzend Songs, die den Boden für eine der besten Geldquellen der Musik-Industrie bereiteten.
Szenenwechsel: John Lomax stieß bei seinen Feldforschungen in einem Gefängnis auf Huddie Ledbetter (1888-1949), der aufgrund seiner Performance begnadigt wurde. Die Tagespresse kündigte ihn bei seinem ersten öffentlichen Auftritt (4.1.1935, Hotel Montclair, N.Y.) noch als "Murderous Minstrel" an, tags darauf jedoch feierten sie ihn als "King of the 12-String-Guitar". Die Rede ist vom Folk-Sänger Lead Belly, der wie kaum ein anderer die Musik-Szene beeinflußte. Ohne ihn stünden Sänger wie Van Morrison heute vielleicht nicht im Bühnenlicht, sondern... müßig, darüber nachzudenken. Zwei Beispiele von vielen, die gewissermaßen auch für eine Neuorientierung in der damaligen Musikszene stehen.

"Smithville 1952"
Der Begriff Folk-Music erklärt sich von selbst, wenn man vor allem ein Werk in Betracht zieht, nämlich die "Anthology Of American Folk-Music", editiert von Harry Smith. Mit dieser Compilation, erstmals 1952 auf 6 LPs erschienen und 1997 wiederveröffentlicht in einer 6CD-Box (jeweils von Smithsonian Folkways), eröffnet sich den Hörern eine längst vergessen geglaubte Welt, die zudem der Musikwelt nachhaltig ungeahnte Möglichkeiten zur Weiterentwicklung bot. Von dieser "Bibel" lernte Bob Dylan ebenso wie Beck, Kurt Cobain oder Elvis Costello, um nur einige wenige zu nennen; O-Zitat Dave Van Ronk 1991: "We all knew every word of every song on it, including the ones we hated..." Was ist das Besondere gerade an diesem Kompendium von Songs – es gibt ja so viele?! Da spielen sicherlich mehrere Faktoren zusammen: Zum einen erschien das Original, wie bereits erwähnt, 1952, also in jenem Jahr, in dem die berüchtigte McCarthy-Ära ihren Höhepunkt fand, und Amerika führte nicht nur Krieg mit sich selbst, den eigenen Landsleuten, sondern auch Krieg gegen Korea. Zum anderen finden sich auf der Anthologie höchst unterschiedliche Songs, die 1952 bereits zwanzig Jahre und noch älter waren und schon zum Zeitpunkt der Einspielung teilweise als "altmodisch" galten. Der gesamte Farbenreichtum Amerikas fand hier Unterschlupf, keine Stilrichtung, die hier verdrängt oder vergessen wurde. Zusätzlich war es die Ausnützung eines neuen Mediums: der Langspielplatte.
Zurück zu Jimmie Rodgers: Gemeinsam mit zwei befreundeten Musikern, Lucien "Piggy" Parks und Goebel Reeves, fuhr der noch unbekannte "Singing Brakeman" in einem Ford Model T quer durch die Staaten und tourte. Lange vor 1927 passierte diese Tour und Jimmie Rodgers nutzte den Kunstgriff, den er von Goebel Reeves lernte, am besten, machte ihn schlussendlich bekannt und wurde dadurch berühmt: American Yodeling. Goebel Reeves, der in einem seiner seltenen Radio-Interviews erklärte "I made it a rule never to stay in one place longer than six months", reiste logischerweise viel herum, mit dem Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg kam er sogar bis nach Europa. In Europa hörte er zum ersten Mal Menschen jodeln, und das nahm er – neben einer Schußwunde – mit zurück in die Staaten. Nach Beendigung der Tour mit Rodgers und Parks heuerte Reeves an, um nochmals nach Europa zu gelangen. Irgendwo in Italien, so um 1928, kurz vor der Rückreise, hörte er eine vertraute Stimme aus einem Grammophon-Laden: Jimmie Rodgers, jodelnd... Goebel Reeves' erste Reaktion: "Wenn Jimmie damit erfolgreich ist, warum nicht auch ich?" Zurück in den U.S.A. nahm er Dutzende von Songs auf, die mit einer Ausnahme ("Hobo's Lullaby", das spätere Lieblingslied von Woody Guthrie) keine besonders große Resonanz hervorriefen...

The Yodeling Teachers – Plattentips
Sowohl Folk- als auch Country-Music kann teuer zu stehen kommen, aber in Kürze feiert die Welt Weihnachten und bevor man sich lange quälen muß, was man sich diesmal schenken läßt, nur ein Wort: CD-Boxen!

  • Die erste ist die oben ausführlicher beschriebene "Anthology Of American Folk Music", die als Standardwerk einfach unentbehrlich ist.
  • Gleich daneben und danach sollte die bei Bear Family erschienene 10CD-Box (ja, ja, die armen Verwandten!) "Songs For Political Action – Folkmusic, Topical Songs And The American Left, 1926-1953" den Plattenschrank füllen. Diese umfaßt im wesentlichen frühe Protest-Songs und bietet neben Musik auch ein umfassendes, 208-seitiges Nachschlagewerk mit sämtlichen Texten und der Geschichte über Aunt Molly Jackson, die verantwortlich für das erste Folk-Revival der Musikgeschichte überhaupt war. Aunt Molly Jackson gilt als Entdeckerin von Woody Guthrie und Pete Seeger und ist neben der ersten Folk-Music-Gruppe (Almanac Singers), Josh White, Earl Robinson, Sis Cunningham uvam. auch als Sängerin auf dieser Box vertreten – ein Erlebnis, das man nicht versäumen sollte!
Aber auch was Country-Music angeht, sind teure Boxen keine Seltenheit, wenn auch nicht in Form von Compilations. Zwei sehr liebevolle Zusammenstellungen seien daher primär empfohlen:
  • Jimmie Rodgers: "The Singing Brakeman" (Bear Family, 6CD & Buch, 1994) – bevor man einzelne Sachen kauft, sollte man es sich gut überlegen, denn früher oder später wird man alles kennen wollen von J.R.!
  • Ein Box-Set von Hank Williams Sr. darf natürlich auch nicht fehlen und ist eigentlich ein Muss: "The Complete Hank Williams" (10CD, Polygram 1998) heißt das gute und teure Stück Musikgeschichte. Einen kompletten Hank Williams kann man mit viel Glück auch noch auf LP ergattern: In schmuckem Ledergewand präsentiert sich die 12LP-Box mit dem Titel "The Immortal Hank Williams" (MGM) für uns Mitteleuropäer recht skurril, da die in japanischer Sprache abgedruckten Texte das Mitsingen erheblich erschweren.
  • Auch Lead Belly kann man sich einiges Geld kosten lasen, denn die von Smithsonian Folkways herausgegebenen "Last Sessions" (4CD, 1994) mit umfangreichem Booklet bieten so ziemlich das Feinste an "alter" Musik.
  • Von Woody Guthrie und Pete Seeger gibt's ebenfalls jede Menge, wobei Pete Seeger auf oben erwähnter 10CD-Box mit Political Songs eine ganze CD gewidmet ist.
Wer's sparsamer angehen möchte, dem sei viel Glück gewünscht, denn die alten Sachen finden sich leider nur mehr auf Plattenbörsen zu teilweise doch recht unverschämten Preisen. Trotzdem einige Empfehlungen:
  • Pete Seeger and Sonny Terry: "Recorded At Their Carnegie Hall Concert" (Folkways, 1957)
  • "American Favourite Ballads" (Folkways, 1957) sowie
  • "Darling Corey" (Folkways, 1950); "Darling Corey/Goofing-Off Suit" ist seit 1993 auch wieder auf CD erhältlich.
Bei Woody Guthrie wird das Ganze leider etwas unübersichtlich; Unmengen von "Best-Of"-Compilations überschwemmen den Markt; die wenigsten sind wirklich zu gebrauchen, aber es gibt auch Ausnahmen, natürlich von Smithsonian Folkways:
  • "Vol. 1-4 – Asch Recordings" (Asch = Moses Asch, der Gründer von Smithsonian Folkways Recordings): 1997 erschien die erste Folge, seit neuestem ist diese Sammlung von Guthrie-Songs auch als Set erhältlich – das Wesentlichste, wenn man so will.
  • Essentiell und als Ergänzung zur Guthrie-Sammlung sei noch "12 Balladen über Sacco und Vanzetti" erwähnt (Pläne, 1979). Die Platte ist wie eine 4-seitige Extra-Ausgabe einer Tageszeitung aufgemacht, die Songs selbst stammen aus den Jahren 1946/47.
Zu guter Letzt noch zwei Tipps:
  • "The Original And Great Carter Family" (RCA 1962): Die ursprüngliche Zusammensetzung, bevor sie in die Brüche ging. Eine schöne Zeichnung ziert das Cover und mit "Little Moses" und "Wabash Cannon Ball" sind zwei der besten Carter-Songs auf dem Album vertreten.
  • Last but not least: The Yodeling Teacher, Goebel Reeves, mit den vermutlich einzigen noch regulär erhältlichen Tonaufnahmen: "Hobo's Lullaby" (Bear Family, 1994) enthält 26 Edel-Kuriositäten. Das feinste und schärfste American Yodeling ever und dann noch die Texte! "I know the police cause you trouble they make trouble everywhere/But when you die and go to heaven, you'll find no policemen there."

In der nächsten Folge geht's dann schon fast in die Gegenwart: Die ersten Stromstecker tauchen auf, die "Traditionalisten" begeben sich auf die Suche nach "Judassen" und Nashville wird Dividenden-Hauptstadt – die 60er Jahre also. Zur Einstimmung noch ein Hörstück-Tipp: XTCs "The History Of Rock & Roll", zu finden auf "Rag & Bone Buffet" (Geffen 1990). [mh]


Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:


Permalink: http://schallplattenmann.de/a104409


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