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[ << | Inhalt | >> ]Ausgabe #189 vom 13.03.2000
Rubrik Feature

Es war einmal... ein Jahrhundert, Teil 5: "We're the children of the eighties", oder: "O Sole Mio - Gott auf Werbetour" - die (verpönten) 80er Jahre

"umbaba umbaba umbaba/.../ Ich habe meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt." (Roland Kaiser, "Santa Maria")
"Die Bombardierung der Sowjetunion hat begonnen!" (Ronald Reagan, Sprechprobe, ca. 1986)
"Where's the justice/ where's the sense?" (Richard & Linda Thompson, "Walking On A Wire", 1982)

Das Jahr 1984 galt seit 1949 als Utopie, die nie erreicht werden sollte. David Bowie vertonte dieses Thema als erster in den 70er Jahren, Eurythmics dann, als es soweit war, als Soundtrack zum Filmspektakel nach George Orwells Romanvorlage. Wir lehnten uns erschrocken von den opulenten Bildern in unseren Kinosesseln befriedigt zurück, denn es war ja nur Hollywood und mit der Popcorn-Tüte in der Hand ist ja alles nur halb so schlimm. Auch wenn sich die Geschichte nicht 1:1 erfüllte, erfolgten dennoch politische Niedergänge: M. Thatcher (ab 1979), R. Reagan (ab 1981). Die Musikwelt reagierte darauf. Sozialkritik wurde laut und die dazugehörige Punk-Musik melodiöser. In GB entstand eine neue Welle in der Vielfalt namens UB40, Billy Bragg, Elvis Costello & The Attractions, Ian Dury & The Blockheads, The Specials, Dexy's Midnight Runners, Paul Weller (zunächst The Jam, dann The Style Council) als die wichtigsten Vertreter, die alle in ihrer eigenen Kunst Kritik an Thatcher übten.

Mit "London Calling" schufen The Clash am Ende des Dekaden(z)wechsels eines der ultimativsten Rock-Alben. Da passt einfach alles: ein kräftiger, satter Sound, intelligente Texte, ungemein variantenreich und voller Überraschungen, die nicht verloren gehen. Speziell auch das Cover: 1956 hielt Elvis Presley seine Gitarre noch brav lächelnd in der Hand, 24 Jahre später zertrümmert Mick Jones endgültig diese Scheinwelt lächelnder Emporkömmlinge. Was blieb war der Schriftzug. Apropos Elvis Presley: Nach dessen Tod wandten sich sehr überraschend einige doch diversen Religionen zu. Gott war gefragt - ausgerechnet von jenen, die das Publikum lehrten, kritisch gegenüber jeglicher Institution zu sein. "Born Again" jedenfalls war das Motto von Bob Dylan, Van Morrison, Santana sowie Nina Hagen. Randy Newman antwortete postwendend persiflierend mit einem gleichlautenden Album. Nick Cave jedoch bezeichnet Dylans "Slow Train Coming", das erste Album aus Dylans "3faltigkeits-Serie", immer wieder als sein Lieblingsalbum und gleichzeitig als "dreckigste" Gospel-Platte, die er kennt. Auf "Shot Of Love" besingt Mr. Zimmermann, Religion hin - Glaube her, den Tod von Lenn-y Bruce und meinte damit vielleicht den kurz zuvor ermordeten John Lenn-on. Und Van Morrison veröffentlichte just-am-end in dieser Phase zwei seiner besten Platten und eine seiner schlechtesten. Ausgleich muss sein. "Common One" bringt eine der wunderbarsten Plattenseiten der Musikgeschichte überhaupt, nämlich die A-Seite. Deren drei Songs, "Haunts Of Ancient Peace", "Summertime In England", "Satisfied" sind schlichtweg ergreifend, bewegend, voller Inbrunst und tiefem, rural-ehrlichem Glauben und dabei durchaus groovy. Dem folgte mit "Beautiful Vision" ein noch kompletteres, wenn auch (für V.M.-Verhältnisse) gefälligeres Werk. Mit "Inarticulate Speech Of The Heart" kam der esoterisch-keyboard-gepflasterte Abgesang.

Kommerziell erfolgreich war das alles nicht, Erfolg hatten ausschließlich beliebig austauschbare Gruppen wie "Duran Duran" oder "Visage" - die stellvertretend für die musikalische Plattheit der 80er Jahre leider erwähnt werden müssen. Am Anfang dieser Niederungen stand das letzte bedeutende Werk von David Bowie ("Scary Monsters And Super Creeps"), Auslösemoment eben jener so called "New Romantics". Bowies Album hätte sich bessere Nachfahren verdient. Wesentlich interessanter hingegen XTC, die sich lobenswerterweise nicht vor Soundexperimenten scheuten. Auf ein recht neues Terrain begab sich auch die Amerikanerin Laurie Anderson. Ihre Performance "United States, Pt. I-IV" dauerte acht Stunden, die sie auf zwei Abende verteilte und letztendlich als 5-LP-Box veröffentlichte. Subtiler Humor-Protest in seiner unberechenbarsten Form kommt da zum Vorschein. Kurze, erzählende Geschichten stehen einer exzentrischen Musik gegenüber beziehungsweise umgekehrt, exzentrische Geschichten stehen einer kreuzbraven Musik gegenüber. Einige Jahre vor der Liaison Bill Clinton/Monica Lewinsky sang Laurie Anderson in "Democratic Way", dass sie davon träumte, sie sei die Liebhaberin von Jimmy Carter, und: "hearing your name/ is better than/ seeing your face". Dieses Werk in seiner Gesamtheit zu erfassen ist nicht ganz leicht, man braucht Geduld und viel Zeit dazu, aber es lohnt sich. Begleitend zur 5-LP-Box bietet sich das Textbuch gleichen Titels an (Harper & Row, 1984, US$ 19.95).

Laurie Anderson war mit dieser Multimedia-Performance Wegbereiterin und Ideenlieferantin für eine ihr nahestehenden Art-Rock-Gruppe namens Talking Heads, die wiederum wenig später mit "Stop Making Sense" den Musikfilm revolutionierten. Work-In-Progress mit einer erfrischend-belebenden Musik. Die Platte hingegen fällt ohne Film stark ab, absolut essentiell hingegen ist da schon deren Live-Anthologie "The Name Of This Band Is Talking Heads (1977-1982)".

1982 übrigens kam ein neues Medium auf den Markt, das die Plattencover von ca. 30 cm Kantenlänge auf 13 cm schrumpfen ließ: Compact-Disc. Vorbei war's mit der Ästhetik. So schnell kann's gehen. Mitte der 80er Jahre erfolgte nämlich der endgültige Durchbruch der Silberwinzlingscheiben, Vinyl-Alben wurden kaum noch produziert, daher auch nicht mehr gekauft. Die Musikfans zerstörten ihre Plattenspieler, überschwemmten die Second-Hand-Läden mit Platten, die selbst zu Dumping-Preisen kaum jemand wollte. Die Musik-Industrie verdiente sich abermals eine goldene Nase, denn sie veröffentlichte sämtliche Aufnahmen der Vergangenheit nochmal: cash and cash only. Wo wir schon beim Geld sind: Musiker lernten in den 80er Jahren wirtschaftlich zu denken. Elton John, Diana Ross u.a. verließen ihre ursprüngliche Plattenfirma, zockten bei der neuen einmal ordentlich ab, kehrten wieder mit neuen Super-Verträgen zum Ursprungslabel zurück, der Effekt: noch mehr cash. Oder: Bands wie The Who, Doobie Brothers, The Eagles, Yes lösten sich (endlich!) auf, Super-Gagen führten sie allerdings leider wieder in eine Endlos-Schleife von Reunions. Der Effekt: "We're Only In It For The Money". Das frühere Anti-Establishment war nun selbst Teil des Establishments, kapitalistische Konzerne stiegen als Großsponsoren bei der Tour-Vermarktung ein, MTV entstand, das Ganze verkam mehr und mehr zum Kastenwesen. Der Effekt: Die Musikbranche mutierte zum Milliardengeschäft und the biggest hit von allen ist ein Schwarzer, der von Jahr zu Jahr weißer wurde: Michael Jackson. Gigantomanie ohne Ende?

Der Hungersnot in Äthiopien stand ein von Bob Geldof organisiertes Medienspektakel gegenüber. Es sollte der Beweis angetreten werden, dass Musik Veränderungen herbeiführen kann. Live-Aid. Einer wollte sogar den Beweis doppelt antreten und sang sowohl in Wembley als auch in Philadelphia. Ein Anderer identifizierte sich derart mit den Hunger leidenden, dass er samt Familie Urlaub in Äthiopien machte. Nur drei Musiker zweifelten am Unterfangen "Live Aid", soffen den ganzen Tag lang, bis sie abends - eigentlich als Höhepunkt vorgesehen - durch ihren etwas irritierenden Auftritt die gute, heile Welt der Amerikaner zumindest eine Viertelstunde lang zerstörten.

Aber wieder zurück zur Wirklichkeit, es war ja schließlich 25 O'Clock: The Sparks gelang mit zwei fulminanten Alben kurzfristig ein Comeback, The The und Violent Femmes tauchten auf und deren 80er-Alben sind, gelinde formuliert, sensationell. Jerry Harrison debutierte mit "The Red And The Black" und lieferte damit ein zeitloses Cross-Over-Album ab, abgesehen davon legte er sein "graues-Maus"-Image als "sprachloser Talking Head" ab. The Dukes Of Stratosphear führten uns zurück in die Psychedelia, Echo & The Bunnymen und The Stranglers schufen wunderschöne aurale Skulpturen, David Sylvian vertonte endgültig seine Liebe zu Japan. ABC gelang mit "Beauty Stab" eine gewagt-gelungene Mischung aus Klassik, The Clash und simplen Hard-Rock-Riffs, sie scheiterten allerdings in kommerzieller Hinsicht damit und produzieren seither nur noch Platt-Soul für hirnlose Supermärkte. Redskins veröffentlichten ein grandioses Album und das war's auch schon leider wieder – sie tauchten unter, soffen ab, was immer. Yoko Ono zeigte uns ihren Schmerz und Lennons blutverschmierte Brille und erntete damit mehr Missfallen denn Anteilnahme. Die Welt ist komisch. Laut und gut waren noch Devo, Dead Kennedys und die frühen B-52's. Leise und gut war Michael Franks.

Nochmal zurück zum Dekadenanfang: Die 80er Jahre begannen mit dem ersten bekannten Aids-Opfer in der Musik-Szene: Am 6. September 1983 starb Klaus Sperber, besser bekannt als Klaus Nomi, und Matt Johnson (The The) lieferte drei Jahre später den passenden Soundtrack zum Thema, nämlich "Infected".

Das musikalisch befriedigendste Jahr der 80er war eindeutig 1982: Lou Reed lieferte mit "The Blue Mask" einen von zugegebenermaßen vielen Höhepunkten seines Schaffens. Dennoch ist diese Platte etwas Besonderes. Das Cover deutet bereits die Richtung an, ist es doch eine blaue Kopie von "Transformer". Erinnerungen an die 60er Jahre wie in "The Day John Kennedy Died" wurden selten besser in ein Musikkleid gepackt als hier und schließlich landete mit "Women" die schönste allen Frauen gewidmete Liebeserklärung auf dem Album. Einfach zum Verlieben schön. Und dann gab's noch dieses verrückte Ehepaar, die sich angeblich ärger als Punk-Rock-Bands aufführten, den Veranstaltern wären die Sex Pistols zur Betreuung auch weitaus lieber gewesen als dieses zornzerstrittene Duo, die zerstörte Garderobenräume zurückließen. Mit "Shoot Out The Lights" brachten Richard & Linda Thompson den musikalischen Höhepunkt aber gleichzeitig das Ende ihrer gemeinsamen Karriere. Für britischen Folk-Rock wurde damit eine ziemlich hohe Latte gelegt und bis heute nicht übertroffen. Und wie bei vielen Meilensteinen entstanden auch hier zwei Versionen: Eine erste, als unbefriedigend empfundene und daher zurückgezogene Version, bekannt als "The Rafferty Tapes", und die zweite, offizielle eben, die auch tatsächlich die bessere ist. Die Live-Auftritte aus jener Zeit waren geprägt vom Ehe-Frust, klangen also wütend-brachial und zutiefst emotional, dabei in bester Spiellaune, rotzig und ohne Sicherheitsnetz. Linda Thompson, 1982 noch zur besten Sängerin Englands gekürt, versagte letztendlich die Stimme: "You open your mouth and nothing happens", oder: Hysterical Dysphonia. Richard Thompson hingegen erlebte ein beständig-kreatives Hoch und veröffentlichte, als ob nichts gewesen wäre, mit "Hand Of Kindness", "Across A Crowded Room" und "Amnesia" gleich drei weitere Musik-Juwelen in den 80ern. Männer haben es eben leichter. Ungerecht, aber wahr.

Frauen, die nicht scheiterten: Rickie Lee Jones und Grace Jones. Die (Nach)namensgleichheit täuscht, denn da taten sich divergierende musikalische Welten auf, die eine klang nämlich wie eine Mischung aus Tom Waits und Joni Mitchell, die andere setzte sich unnahbar-kühl zwischen Reggae und Funk. Die eine legte Soul in ihre Stimme, die andere avantgardistische Strenge.

Zu guter Letzt sei noch der 10. Juni 1981 erwähnt. Man hätte dabei sein sollen im Bond's Casino am Times Square in New York City. Da trafen einander The Clash und Allen Ginsberg. Letzterer schrieb im Flug von Frankfurt nach New York ein Poem, "Capitol Air", Joe Strummer bat ihn auf die Bühne, das Publikum war irritiert. "Was soll dieser Alte da?" "President Ginsberg?" "Was soll das?" Pfiffe und Buhrufe. Unruhe. Dessen ungeachtet legte Ginsberg los: "I don't like the government where I live/ I don't like dictator-ship of the rich/ I don't like bureaucrats telling me what to eat/ I don't like police-dogs sniffin' around my feet..." Tief und zornig klang diese Stimme und im Hintergrund setzte das Quartett rumpelnd und krachend ein, niemals war Live-Musik besser - die Aufnahme erschien erst 1994 offiziell, daher: Vergesst es wieder und wartet auf Teil 6...

(Die Plattentips zu den 80ern gibt es in der nächsten Ausgabe.) [mh]


Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:


Permalink: http://schallplattenmann.de/a104770


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