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[ << | Inhalt | >> ]Ausgabe #181 vom 16.01.2000
Rubrik Feature

Es war einmal... ein Jahrhundert, Teil 3: Ich will nicht wie mein Alter werden - Die 60er Jahre, oder: Everybody Must Get Stoned

"Ihr lungert herum in Parks und Gassen/ Wer kann Eure sinnlose Faulheit nur hassen?/ Wir!" (Freddy Quinn; "Wir", 1967)
"Sie haben unsere Narren eingesperrt, damit sie selbst als weise dastehen." (Roy Harper, 1969)
Was bisher geschah: 1948 erschien Slim Whitmans "I'm Casting My Lasso Towards The Sky"; dieser Song sollte 1997 die Menschheit vor den "Mars Attacks!" bewahren. 1923 experimentierte Lloyd Loar als Erster mit einer elektrisch verstärkten Gitarre und in den späten 30ern benützte Les Paul bereits erfolgreich die E-Gitarre als Live-Instrument – somit war alles anders, die Folgen daraus kennen wir alle. Die Musikwelt hatte sich neu zu orientieren. Mitte der 50er Jahre erfolgte in den Sun-Studios (Memphis, Tennessee) offiziell die Geburt einer neuen, stilprägenden Musik-Epoche namens Rock'n'Roll. Und: 1959 war das Geburtsjahr des vorläufig letzten Folk-Revivals: in Newport geboren, ebendort 1965 zu Grabe getragen.
Somit sind wir mitten in den 60ern und bei einem Phänomen, mit dem die Folk-Puristen einige Zeit haderten – dem Folk-Rock: "Ich saß da in diesem Café, schnippte mit den Fingern und sagte: Folk-Rock!" (Bob Dylan auf die Frage, wie Folk-Rock entstanden sei). Bevor es aber dazu kam, schien die Folk-Welt noch in Ordnung. Da standen sie auf der Bühne und spielten wie ehedem und immer die Traditionals ihrer Großmütter und -väter. Von Joan Baez, recht bald zur Folk-Queen erkoren, bis hin zu Pete Seeger – die Namensliste ist kürzer als sie sein könnte: Martin Carthy, Leonard Cohen, Judy Collins, Donovan, Ramblin' Jack Elliot, Kingston Trio, Joni Mitchell, Maria Muldaur, Phil Ochs, Odetta, Peter, Paul & Mary, Dave Van Ronk, Eric Von Schmidt, Simon & Garfunkel, The Weavers u.v.v.m.
In ihren Grundmauern erschüttert wurde die Folk-Scene, als ein halbwüchsiger, vor Selbstvertrauen strotzender Jüngling daherkam, der (angeblich) kaum Gitarre spielen konnte und dessen Gesang sich eher ungewöhnlich anhörte. Zudem versuchte er erst gar nicht, Note für Note nachzuspielen, sondern den Songs Individualität einzuhauchen. So einer hat uns gerade noch gefehlt – wer weiß, wie oft dieser Satz (un)ausgesprochen in der Folk-Szene herumschwirrte. So mir nichts dir nichts begann er außerdem Songs zu schreiben – ja, darf er denn das? Bob Dylan tat jedenfalls, was er tun musste und wir können eigentlich nur dankbar sein. Irgend jemand musste ja den Anfang machen. Bob Dylan war plötzlich begehrt – nur John F. Kennedy war beliebter – und wurde zum "Sprecher" einer ganzen Generation "gekürt", was ihm gar nicht recht war. Mit "Another Side Of Bob Dylan" stellte er die Puristen zum ersten Mal auf die Probe – aber es war eben "Another Side" und akustisch – Glück gehabt!
Die darauffolgenden 3 Alben ("Bringing It All Back Home", "Highway 61", "Blonde On Blonde") und vor allem seine Auftritte beim Newport Folk Festival 1965 und seine Tour mit The Band lösten eine Kontroverse zwischen Publikum und Künstler aus, die ihresgleichen suchte. Dies kann man in unzähligen Büchern ausführlichst nachlesen – und, was viel wichtiger ist, seit kurzem auch offiziell nachhören (Bob Dylan: "Live At The Albert Hall - Official Bootleg Series Vol.4").
Der Sound der 60er Jahre – wir kennen ihn alle, aber es ist mehr ein Gefühl denn etwas (Be)greifbares. Auf unzähligen Platten dokumentiert, auf Vinyl trotz, und vermutlich sogar aufgrund tontechnischer Mängel intensiver nachvollziehbar als per Laser-Konserve, brachte uns dieses Jahrzehnt den großen musikalischen Aufbruch in bis dahin undenkbare Klangwelten: Bob Dylan (akustisch und elektrisch), Van Morrison (mit und ohne Them), The Beatles (mit und ohne LSD), The Rolling Stones (mit und ohne Brian Jones), The Velvet Underground (mit und ohne Nico), The Doors (nur mit Jim Morrison) als Speerspitze des 60's Groove. Aber auch (heute noch) unbekanntere Gruppen wie "The Fugs", die in all ihrer Unberechenbarkeit diese Dekade zur wertvollsten der Pop-History werden ließen. Sie alle griffen wie selbstverständlich auf bereits Bestehendes zurück (s.a. Teil 1 & 2 dieser Serie), um etwas Neues zu schaffen.
Die 60er waren auch das Jahrzehnt der großen Schatten – Vietnamkrieg, Kalter Krieg, das unüberwundene Trauma der NS-Vergangenheit: Mauern wurden errichtet. Rassismus war beliebt wie immer. Protest entstand: "Remember the war against Franco?/ That's the kind where each of us belongs/ Though he may have won all the battles/ We had all the good songs..." – zynisch spöttelnd wie bei Tom Lehrer oder mit unbeantwortbaren Fragen, deren Antworten der Wind transportiert; oder Solidarität wie jene in "We Shall Overcome", eine (mittlerweile fast vergessene) Hymne der 60er-Folkies.
Allen Ginsberg prägte den Terminus "Flower Power", aber da waren die 60er schon fast vorüber: "...There was a time/ When the river was wide/ And the water came running down/ To the rising tide/ But the wooden ships/ Were just a hippie dream/.../ If you know what I mean..." wird Neil Young 1986 zu singen wissen. Am Ende der Dekade erschien noch mit Van Morrisons "Astral Weeks" eines der imponierendsten Klanggemälde, eine Mixtur aus Rock, Folk, Jazz und Blues – eine Zusammenfassung dieser Zeit sozusagen, mittlerweile längst zum Mythos erklärt.
Das Medium Schallplatte, meinte Jerry Garcia, begrenze Musik. Gut, dass es das Festival bei Woodstock (13.-15. August 1969) gab. Auch eine Erfahrung, die neu war und zugleich stolz machte: "...by the time we got to Woodstock/ we were half a million strong..." (Joni Mitchell, 1970). Aber die Träume, dass es so weitergehen könnte, zerplatzten. Die ersten (Drogen)-Opfer waren zu beklagen: Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison; Dylan rettete sich, indem er eine Familie gründete, The Beatles lösten sich auf – und so begannen die 70er eher desillusionierend...

Plattentips:

  • Tom Lehrer: "That Was The Year That Was" (1965) – Satirischer Zynismus par excellence!
  • The Fugs: "First Album" (1965), Virgin Fugs: "For Adult Minds Only" (1965) und The Fugs: "The Fugs" (1966; alle Base Records - ESP Folk Archive Recordings 1018, 1028, 1038)
Tuli Kupferberg, Ed Sanders und Ken Weaver, The Fugs eben, waren bewusst radikaler, dafür weniger musikalisch als Zappas Mothers Of Invention, deren Alben – neben weiteren – ebenso in jedem Plattenschrank zu finden sein sollen:
  • Mothers Of Invention: "Freak Out!" (1966) und "We're Only In It For The Money" (1968)
  • Roy Harper: "The Sophisticated Beggar" (1967; Strike JHL 105) und "Folkjokeopus" (1969; Liberty)
Live eine Sensation, im Studio meistens gescheitert:
  • Grateful Dead: "Workingman's Dead" ist die löbliche Ausnahme. Das Album erschien zwar erst im Mai 1970, besitzt jedoch das Feeling und den Sound der 60er Jahre.
  • Johnny Cash: "At Folsom Prison" (1968, aktuell wiederveröffentlicht) und "At San Quentin" (1969) – Outlaw-Country-Rock at its best
  • The Band: "Music From Big Pink" (1968; Capitol) sowie
  • Bob Dylan & The Band: "The Basement Tapes" (1967 aufgenommen erschienen 1975, Columbia/Sony)
Amerika mag groß sein, aber diese Musik ist noch um einiges vielfältiger, mythisch und inspirierend:
  • Van Morrison: "Astral Weeks" (Warner 1968).
Ebenfalls aus GB:
  • Fairport Convention: "Unhalfbricking" (Hannibal 1969)
  • Sandy Denny & The Strawbs (Hannibal 1967, erschienen 1973).

Und sonst? "...take what you need, you think will last/ But whatever you wish to keep, you better grab it fast..." [mh]


Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:


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