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[ << | Inhalt | >> ]Ausgabe #184 vom 06.02.2000
Rubrik Feature

Es war einmal... ein Jahrhundert, Teil 4: "Oh dear, look what they've done to the blues - oder: The King's gone, but not forgotten, this is the story of... the 70s!"

"So muss das Leben wohl sein/ Es holt alle Verlierer mal ein/ Ich kam verlassen mir vor/ Drum adios, adios, adios amor..." (Andy Borg; "Adios Amor")
"I'm so confused/ I wish I could die die die..." ("Cockney Rebel": "Psychomodo")
"Love is free!" Dieser aus den 60er Jahren stammende Ausspruch kulminierte 1970 in Deutschland zum sogenannten "Nichtehelichengesetz". Auch musikalisch blieben die 60er Jahre stilprägend, wenn auch 1970 Musikgruppenauflösungen beziehungsweise Anhäufungen von Todesfällen auf der Tagesordnung standen (siehe auch Teil 3): The Beatles (10. April), Them (bereits ohne Van Morrison), Peter Green trennte sich von Fleetwood Mac, The Monkees, Jefferson Airplane erlebten in diesem Jahr den Anfang vom Ende, Lou Reed verließ Velvet Underground (1971 folgte dann das endgültige Aus der Gruppe). 1971 erfolgte die Scheidung von Simon & Garfunkel und 1972 verabschiedeten sich Quicksilver Messenger Service.
Die Ãœberlebenden wiederum feierten ihre (toten) Helden aus den 60ern in reminiszenter Weise. Die große Party begann, glamourös und glitzernd. Sie alle, das Publikum eingeschlossen, stampften mit, pomadisierten den Scheitel und die Hemdkrägen wuchsen und wuchsen. Hippies wurden ins Berufsleben integriert. Androgynität war in: David Bowie, Bryan Ferry, Steve Harley. Der Synthesizer hielt Einzug und somit die deutsche Formation Kraftwerk als Antithese zur Gitarre. Rock-Musik verirrte sich in die Ãœberladenheit des Bombast. Yes, ELP, Queen, Genesis und später Meat Loaf/Jim Steinman als abschreckendste Beispiele dafür. Irgend etwas hatten sie alle zu verbergen, und sei es nur Angst, mit der elementaren Wucht der 60er Jahre nicht mithalten zu können. Wehmütige Rückblicke oder einfach Tribute – schwer, hier differenzieren zu können.
Vielleicht mangelte es auch "nur" an neuer (bzw. beständiger) Kreativität. Was weiß ein Fremder, 1966 geboren, dessen erste Radio-Erinnerung "Rudi Ratlos" (Udo Lindenberg) war, das er liebte sowie "Wigwam" (Bob Dylan), das er derart schlecht fand, dass er entweder das Radio abschaltete oder einen anderen Sender suchte. Ach ja, da gab's (zumindest) noch einen Song: "A Hard Rain's A-Gonna Fall" von Bryan Ferry. Diesen Song liebte er auch, den Text verstand er zwar nicht, dafür aber das Lachen und den Rhythmus. Erst später, viel später, wurde ihm klar, dass sowohl "Hard Rain" als auch "Wigwam" von Bob Dylan und die rhythmische Lach-Version nicht das Original war. Da haben wir es. Was muss sich da erst ein Nirvana-Fan denken, wenn er erfährt, daß "Where Did You Sleep Last Night?" eine zwar ur-coole, aber dennoch ur-alte Lead-Belly-Nummer ist?
Aber keine Vorgriffe bitte! Wir befinden uns in den schrillen 70er Jahren, in denen wir einige neue Musikströmungen kennen lernen sollten. Die waren in den Charts artig und brav konkurrierend in Geld zählender Harmonie nebeneinander vertreten: Baccaras "Yes Sir, I Can Boogie!" genauso wie Nina Hagens Textzeile "Ich bin nicht deine Fick-Maschine!" oder Disco wie Punk. Keine Untergriffe bitte! Wir befinden uns in den schrillen 70er Jahren, in denen Akustik-Gitarren plötzlich vehement abgelehnt wurden – oder doch nicht?
David Sandison (Island Records): "Ich sah Nick [Drake] in unserer Empfangshalle herumstehen und fragte ihn, ob er nicht in mein Büro kommen wollte. Da saß er also in meinem Büro, ein Master-Tape fest unterm Arm geklammert, sagte kein Wort, trank Tee, und dann, nach einer halben Stunde etwa, meinte er: 'I'd better be going...', das Master-Tape immer noch fest unterm Arm geklammert. Eine Stunde später rief mich die Empfangsdame an und sagte: 'Nick's left the tapes behind!' So ging ich runter und da war diese große Schachtel mit dem 16-Spur Masterband und darauf stand: 'Nick Drake: Pink Moon'." Diese Anekdote ist bezeichnend für das dritte und leider letzte Album zu Nick Drakes Lebzeiten, aber auch bezeichnend für seine letzten, schweigsamen Lebensjahre. Eingespielt wurde das Album in nur zwei Nächten. Die Ingredienzien: Nicks Stimme, seine Akustik-Gitarre sowie (nur beim Titelsong) ein paar eingestreute Piano-Klänge. Elf Songs bei einer Gesamtspieldauer von knappen 27 Minuten sind es schließlich geworden. Eine Tour-de-Force durch all sein Leiden. Intime, fragile Songs zwischen Schüchternheit, existentieller Ratlosigkeit und der Vorahnung nicht mehr lange zu leben; oder: bedrohliche, dunkle Songs, die letzte Hoffnung versagend – selbst die Schlussnummer "From The Morning", in der er einen wunderschönen neuen Tag anbrechen läßt, verheißt nichts Optimistisches. "From The Morning" ist bloß Verdrängungstaktik, denn jeder Tag endet damit, dass ihm erneut die Dunkelheit auf den Kopf fällt. Zudem diese unsägliche Sprachlosigkeit, von der er nicht mehr wegkommt. Und so schiebt er sich ein Antidepressivum nach dem anderen rein. Am 24. November 1974 schließlich ging Nick Drake früh zu Bett und kam nie wieder zurück.
In jenen Tagen standen ein paar Musiker in einem Studio in Nashville und spielten ein Album ein, das zurecht Musikgeschichte schrieb. So manche Textzeilen führen scheinbar geradewegs salutierend zu Nick Drake, der allerdings mit Sicherheit nicht gemeint war: "I been double-crossed now for the very last time and/ now I'm finally free/ I kissed goodbye the howling beast on the borderline/ which separated you from me..." Es entlud sich der Zorn von Bob Dylan, dessen Verlust auf den Namen Sara [Lowndes] hörte und Dylan trug die zerbrochene Ehe öffentlich vor. "Blood On The Tracks" erschien am 20. Januar 1975. Verlorene Liebe, Schmerz und bittere Tränen. Die Öffentlichkeit jubelte. Da war er wieder, so wie "sie" (also wir) ihn haben wollten, noch dazu besser denn je! Zusätzlich eröffnete er mit seiner Rolling Thunder Revue neue Aspekte in Sachen Live-Musik.
Weitere Tragödien: Phil Ochs erstickte im Suff und bei Sandy Denny weiß man nicht so genau, "did she jump or was she pushed". Marc Bolan, Keith Moon, Lowell George und – ach! – Gram Parsons ist auch so einer, der viel zu früh das Zeitliche segnete.
1970 schaffte dafür Neil Young bezeichnenderweise mit "After The Goldrush" endgültig den kommerziellen Durchbruch. Van Morrison untermauerte seinen Ruf als ungewöhnlich vielfältiger Musiker und lieferte mit "Moondance" einen weiteren Meilenstein der Musikgeschichte ab. Ray Davies (The Kinks) forderte "Lola" zu einem Tänzchen auf und Syd Barrett vertonte seine Abgehobenheit, aber das interessierte die Öffentlichkeit kaum, denn es gab ja Pink Floyd. In den U.S.A. begaben sich die David Bromberg Band, Jerry Garcia & David Grisman sowie Ry Cooder auf die große Schatzsuche. Deren Gitarrenspiel blieb lange Zeit einzigartig, ähnlich den Texten Randy Newmans, die vor poetischem Sarkasmus nur so strotzten. J.J. Cale benutzte als einer der ersten einen Drum-Computer – Personalkosten sind eben doch teuer – seine Laid-Back-Kunst aber wird wohl immer unerreicht bleiben.
Und Frauen? Kate & Anna McGarrigle hinterfragten ebenfalls den Mythos Americana in Form sehr familiär-persönlicher Texte. Ihr Output ist leider sehr bescheiden, die Qualität der Songs dafür umso besser. 1973 debütierte Joan Armatrading (gemeinsam mit Pam Nestor) und schuf seither wunderbare Love-Songs. Ihre Mixtur aus Folk, Blues und Reggae resultierte in reifen wie auch ergreifenden Tondokumenten. Kein Kitsch, kein Pathos, keine Oberflächlichkeiten, sondern Gefühle pur. Joni Mitchell brachte 1974 Jazz in ihre Folk-stämmigen Kompositionen und hatte hörbar Spaß dabei; ein Jahr später integrierte sie – also noch vor den Talking Heads – burundische Trommeln in ihre komplexen Songstrukturen. Ein Stück World-Music, bevor "World-Music" zum Idiom wurde.
Kaum zu glauben, wir befinden uns immer noch in den schrillen 70er Jahren, in denen The Beatles sich mal Wings, mal E.L.O. nannten und leider eher aufgewärmt als taufrisch klangen.
Frisches hingegen entstand wieder einmal in Amerika: Punk! Am Anfang war das Wort: Ein Comic mit heute vermutlich unbezahlbarem Sammlerwert war das auslösende Moment einer musikalischen Runderneuerung, die schließlich – wieder einmal – in GB die ersten kommerziellen Früchte trug und irgendwann in einer Sackgasse landete. Punk hieß Ablehnung, Punk war – zu Beginn jedenfalls – keineswegs politisch wie Folk-Music, sondern sehr persönlich, z.B. wenn Wayne County über "Scheiße" sang und "Scheiße" (in Form von Hundefutter) während der Live-Performance aß.
Noch eine Frau fehlt, richtig: Patti Smith. Sie bekommt einen Ehrenplatz, denn niemand formulierte den Sound der 70er Jahre in derart gelungener Weise wie die Patti Smith Group.
Zu guter Letzt: "The Clash" bereiteten sich auf ihr Masterpiece vor und Ende der 70er Jahre begann die große Suche nach Gott – böse Zungen behaupten, weil Elvis Presley endgültig den Löffel abgab... aber davon mehr in Teil 5...

(Die Plattentips zu den 70ern gibt es in der nächsten Ausgabe.) [mh]


Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:


Permalink: http://schallplattenmann.de/a104642


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