#636 vom 13.07.2009
Rubrik Kolumne
Sal's Prog Corner #81
Trari-Trara, der (deutsche) Sommer ist da: Es regnet abwechselnd Bindfäden und Sturzbäche, mein Außenthermometer zeigt seit Tagen Werte um die 16°C, im Radio spielen sie an den kältesten Tagen die übelsten Gute-Laune-Hits »der Siebziger, Achtziger, Neunziger...« (echt gruselig, dieser Spruch, nicht wahr?) und alle Freunde und Bekannte fahren mild lächelnd gen Süden. Aber: Man kann Köln entlang der Nord-Süd-Achse in fünf Minuten durchqueren, in der Stadt bekommt man problemlos Parkplätze und die Schlangen an den Kassen um 17h sind deutlich kürzer. Das alles ist nicht ungewöhnlich, genauso wenig wie die heutige Prog Corner große Überraschungen bereit hält, aber immerhin ein paar Tipps zu Veröffentlichungen, die zu anderen Jahreszeiten vielleicht übersehen würden.
Keep on proggin... [sal]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
The Wishing Tree "Ostara"
Folk/Pop/Rock – Side-Project von Marillion-Gitarrist Steve Rothery mit der Sängerin Hannah Stobart
(CD; EarMusic)
Steve Rothery ist im Hauptberuf der vielbewunderte Gitarrengott von Marillion. Vor allem seine ausladenden E-Gitarren-Soli bei vielen Marillion-Klassikern sind stilprägend für das Prog-Genre geworden und versetzen die Fans bei jedem Konzert in Entzücken.
Aber Rothery hat auch eine andere, eine 'leise' Seite (wenn man es so nennen will), die er in vielen ruhigen Kompositionen für Marillion entfaltet und die er verstärkt in sein Side-Project The Wishing Tree einfließen lässt. Mit "Ostara" hat er nun zum zweiten Mal (nach zwölfjähriger Pause) gemeinsam mit der Sängerin Hannah Stobart ein Wishing-Tree-Album geschrieben und aufgenommen, das auf schlichten, semi-akustischen Arrangements und der weichen Stimme Stobarts aufbaut. Die Songs auf "Ostara" sind melancholisch eingefärbt, aber anders als auf dem Vorgänger "Carnival Of Soul" (1996) nicht alle ruhig (wie die Highlights "Hollow Hills" und "Soldier"), sondern bei einigen Mid-Tempo-Nummern durchaus poppig-eingängig (etwa bei "Fly" und "Seventh Sign").
Mit seinen leichten Folk-Einflüssen ist "Ostara" ein gut anzuhörendes, (weitgehend) unkitschiges Pop-Rock-Album geworden, das Fans von Sarah McLachlan oder den Maggie-Reilly-Nummern von Mike Oldfield gefallen wird. Mit Progressive Rock hat das freilich nichts zu tun, will es aber auch nicht. [sal: @@@]
Phideaux "Number Seven"
Psychedelic/RetroProg – Das beste Album, das Phideaux nach "Doomsday Afternoon" machen konnten
(CD; Bloodfish)
Phideaux haben sich nach dem letzten Album, dem RetroProg-Meisterwerk "Doomsday Afternoon" (2007), für ihre Verhältnisse viel Zeit gelassen. Sowohl im Sound, als auch im Aufwand (Gastmusiker, Arrangements) war offenbar ein Punkt erreicht, an dem man nicht (wie sonst immer) einfach noch ein Quäntchen drauflegen konnte, ohne dass aus dem Geniestreich ein überambitioniertes, aufgeblasenes Prog-Monster werden würde.
Also beschritt man einen anderen Weg, verzichtete auf einiges pathetische Beiwerk und gestaltete die Songs nicht mehr ganz so proggy, stattdessen feilte man weiter an den Gesangspassagen und verpasste dem Album einen eher psychedelischen Sound, der mich stark an die europäische Szene der späten 1960er, frühen 1970er erinnert. Das Faible des Bandleaders Phideaux Xavier für den frühen David Bowie wurde wohl auf keinem Album zuvor so deutlich. Gerade bei dem auf Italienisch gesungenem "Storia senti" (zu Deutsch 'Hör zu, Geschichte') klingt er wie der junge Bowie, der "Ragazzo Solo, Ragazza Sola" (eine italienischsprachige Version von "Space Oddity", 1969) singt.
Freilich: Eine richtige Revolution sind diese Veränderungen nicht, "Number Seven" klingt immer noch verdammt nach Phideaux. Nach sieben Alben seit 2003 gibt es genügend Trademarks, die immer wiederkehren. Der versierte Phideaux-Kenner wird bei dem Album also nichts Neues, sondern eher Bekanntes hören, dennoch: "Number Seven" ist das beste Album, das Phideaux nach "Doomsday Afternoon" machen konnte, ohne sich zu überschlagen. [sal: @@@@]
<#061: David Bowie "The Deram Anthology 1966-1968"> [bs:Â @@]
<http://www.myspace.com/phideaux>
<http://www.lastfm.de/music/Phideaux/Number+Seven>
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Riverside "Anno Domini High Definition"
New Artrock/Progmetal/Progressive Rock – Riverside entwickeln sich weiter
(CD, CD+DVD; InsideOut)
Ich muss zugeben, ich habe nicht damit gerechnet noch einmal ein Album von Riverside zu hören, das mich wirklich anspricht. Denn nach ihrem Überflieger-Album "Second Life Syndrome" (2005) ging es für die polnische Formation zwar erst so richtig los, ich konnte aber der zunehmenden Anzahl an EPs, Vorab-Singles usw. immer weniger abgewinnen. Ich hörte bei Riverside immer weniger Kompositionen und immer mehr Masche (oder neutral formuliert 'Atmosphäre'). Das Album "Rapid Eye Movement" (2007) fand ich so nichtssagend, so offensichtlich sich wiederholend, dass ich es hier gar nicht besprechen mochte.
Mit "Anno Domini High Definition" beschreitet das Quartett um den vorzüglichen Sänger (und Bassisten) Mariusz Duda endlich neue Wege. Das Album klingt über weite Strecken härter und moderner als die Vorgänger, vor allem hat man aber wieder mehr Wert auf die Kompositionen selbst gelegt, die mir sonst viel zu gleichförmig klangen. Endlich klingt ein Song nicht wie der nächste: Der Opener "Hyperactive" und das Herzstück des Albums "Left Out" sind gute Beispiele für die (für Riverside) beachtliche Bandbreite des Albums.
"Anno Domini High Definition" ist eine Riverside-Scheibe, die ich jedem Prog-Fan empfehlen kann, der es durchaus mal etwas lauter werden lassen möchte, ohne gleich eine reine Progmetal-Scheibe hören zu wollen. [sal: @@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
<#641: Jolly "Forty-Six Minutes, Twelve Seconds of Music"> [sal:Â @@]
The Butterfly Effect "Final Conversation Of Kings"
NuProg/Alternative Rock – Es gibt Gutes aus Down Under zu entdecken
(CD; Superball)
Ist das noch Progressive Rock, so wie man ihn heute definiert? Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wo ich da eine Grenze ziehen soll. Wichtiger ist, dass das dritte Studioalbum des australischen Quartetts The Butterfly Effect "Final Conversation Of Kings" viele Progfans ansprechen wird, vorausgesetzt sie können mit der modernen Lesart von Progressive Rock von Bands wie Muse, A Perfect Circle oder Dredg etwas anfangen.
Dreh- und Angelpunkt der Musik von The Butterfly Effect ist die ausdrucksstarke Stimme von Frontmann Clint Boge, der gemeinsam mit der vielschichtigen Gitarrenarbeit von Kurt Goedhart den Sound der Band prägt. Die Kompositionen sind allesamt auf diese Beiden ausgerichtet. Wie variabel das dennoch sein kann, belegt "Final Conversation Of Kings" eindrucksvoll: Hier kommt keine Langeweile auf.
Für alle, die wie ich dem Attribut 'Nu' (wie in NuMetal, NuRock, NuProg) üblicherweise eher skeptisch gegenüberstehen: Nicht alles, was sich ein schickes, hippes Etikett verpasst, muss zwingenderweise nur heiße Luft sein. Zur Erläuterung unbedingt in den Opener "World's On Fire" und in "Rooms Without A View" reinhören. [sal: @@@@]
<#359: A Perfect Circle "Thirteenth Step"> [dmm:Â @@@@@]
<#631: Dredg "The Pariah, The Parrot, The Delusion"> [dmm:Â @@@]
<http://www.myspace.com/thebutterflyeffect>
Dream Theater "Black Clouds & Silver Linings"
Progmetal – Dream Theater klingen wie... Dream Theater
(CD, 3CD, LP; Roadrunner)
Als ich vor einigen Wochen einen Webcast mit Dream Theater vom Download Festival in Donington sah, ahnte ich für das anstehende zehnte Studioalbum "Black Clouds & Silver Linings" Böses. Nicht nur die eher berüchtigten Live-Gesangsqualitäten von James Labrie schockten mich, sondern vielmehr noch der Gesamteindruck der Band, die so abgefuckt, so lustlos und so gelangweilt agierte, wie ich es mir kaum vorstellen konnte. Als ich dann noch zuerst die Cover-Songs von der Bonus-CD hörte – neben der regulären Edition erscheint das Album noch in zig anderen Fassungen, die zum Teil eine Bonus-CD mit sechs Cover-Versionen beinhalten – war ich fast sicher, dass das neue Album einen absoluten Tiefpunkt in der Diskografie der New Yorker Progmetal-Ikonen darstellen würde.
Nun, so schlimm ist es glücklicherweise nicht gekommen: "Black Clouds & Silver Linings" ist bei genauerem Hinhören nicht das schlechteste Dream-Theater-Album der letzten Jahre. Vermutlich ist es sogar etwas stärker einzuordnen als die beiden Studio-Vorgänger "Systematic Chaos" (2007) und "Octavarium" (2005), auch wenn ich gerne auf die Single "A Rite Of Passage" und auf die eine oder andere aufdringliche Keyboard-Passage hätte verzichten können. Unterm Strich halten sich die Altmeister aber wacker und bleiben sich und ihren Fans treu: Dream Theater klingen auf "Black Clouds & Silver Linings" durchweg wie sie selbst (und das war bei den letzten Alben nicht immer so). Anspieltipps: "A Nightmare To Remember" und "The Shattered Fortress". [sal: @@@]
<#440: Dream Theater "Octavarium"> [sal:Â @@@@]
<http://www.myspace.com/dreamtheater>
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Marillion "Recital Of The Script"
Neoprog – Der Abschluss der 'Script'-Tour im Londoner Hammersmith Odeon (1983)
(2CD; EMI)
Für viele Fans, die Marillion seit ihren Anfängen in den frühen 1980ern verfolgen, bleiben die ersten vier Studioalben mit Frontmann Fish (die sogenannte 'Fish-Ära') unerreicht. Als sie am 17. und 18.4.1983 im legendären Londoner Hammersmith Odeon ('Hammy', wie Fish in den Liner Notes ausführt) auftraten, war das Debütalbum "Script For A Jester's Tear" gerade erschienen und die Tournee hatte sich zu einem unerwarteten Erfolg entwickelt.
Die Aufnahmen auf "Recital Of The Script" wurden am zweiten der beiden Konzertabende eingefangen und zunächst als Video, 2006 dann als DVD veröffentlicht. Die Setlist setzt sich überwiegend aus Stücken des Debüts zusammen, bietet aber in der nun erschienenen ungekürzten Fassung auch ein paar Raritäten wie "Three Boats Down From A Candy" und "Charting The Single". Die Klangqualität der Aufnahme ist exzellent und die Band zeigt sich in bester Spiellaune, vor allem Frontmann Fish zieht hier alle Register.
Zeitgleich mit "Recital Of The Script" wird das letzte 'offizielle' Album mit Fish, die Doppel-Live-CD "The Thieving Magpie" (1988) wiederveröffentlicht; bemerkenswert hier die vollständige Fassung des Überflieger-Albums "Misplaced Childhood" auf CD#2. Außerdem erscheint "Live From Loreley" zum ersten Mal ungekürzt. Es handelt sich hierbei um einen musikalisch eher durchschnittlichen Mitschnitt von 1987, aufgenommen an rockhistorischer Stätte auf der Freilichtbühne Loreley, der zunächst als Video (auch als Sound & Vision-Ausgabe mit dem Audio-Part auf CD), 2006 dann ebenfalls als DVD wiederveröffentlicht wurde. Auch diese Doppel-CD kommt, wie "Recital Of The Script", mit neuen Liner Notes von Fish daher. Für die Fans der frühen Marillion sind die drei Doppelalben sicherlich willkommene Leckerbissen. [sal]
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