#543 vom 16.07.2007
Rubrik Kolumne
Sal's Prog Corner #64
In der heutigen 'Ferien-Ausgabe' der Prog-Corner erscheinen große, gern gesehene Namen der Prog-Szene: Sleepytime Gorilla Museum, Phideaux, The Flower Kings – die Szene macht offenbar keine Sommerpause, ganz im Gegenteil: Gerade jetzt sind viele Bands auf Tour und bringen tourbegleitend ein neues Album auf den Markt. Gut so: Mit guter Musik in petto kann man der alljährlichen Sommer-Mitgröhl-Hit-Bedrohung stilvoll ausweichen.
Der Sommer ist endlich da, alles wird gut: Genießt die Musik, genießt die Wärme, bis zum nächsten Mal und – ihr wisst schon – keep on proggin'... [sal]
The Flower Kings "The Road Back Home"
RetroProg – 'Best Of'-Compilation der schwedischen 'Blumenkönige'
(2CD; InsideOut)
"The Road Back Home" dokumentiert den Weg der schwedischen Prog-Könige The Flower Kings vom Underground-Tipp bis zum Platzhirsch der Szene. Im Guten wie im Schlechten reiht dieses Album exemplarische Titel der Formation um Roine Stolt aneinander, zwar nicht chronologisch, aber mit reichlich Hintergrundinfos im Booklet versehen.
Roine Stolt wäre nicht er selbst, hätte er nicht extra für diese Zusammenstellung noch einmal Hand an die Tracks angelegt und sie überarbeitet, sie klanglich aktualisiert. Ob der Fan deswegen zugreifen sollte, ist allerdings fraglich; ob der unveröffentlichte Track "Little Deceiver" und die bisher nur auf einer Fanclub-CD zu bekommende komplette Genesis-Cover-Version von "The Cinema Show" bessere Gründe sind, mag jeder für sich selbst entscheiden, de facto bleibt "The Road Back Home" genau das, was es auf dem Cover vorgibt zu sein: "A compilation for the collector or the newbie", für die meisten wohl eher überflüssig. [sal]
Frogg Café "The Safenzee Diaries"
Jamrock & Retroprog – Das laue Leben der Frösche
(2CD; 10T)
Eher enttäuschend ist das Live-Album der US-amerikanischen Band Frogg Café ausgefallen. Enttäuschend vor allem deswegen, weil dem Sextett aus New York der Ruf vorauseilt, live deutlich druckvoller und überzeugender daher zu kommen als im Studio. Das vorliegende Doppel-Album "The Safenzee Diaries" kann dies wahrlich nicht bestätigen. Die meisten Stücke kommen schrecklich uninspiriert und belanglos daher, die Soli arten nicht selten in bloßes Genudel aus; außerdem finde ich die Reihenfolge der Titel und den Sound der Aufnahmen alles andere als gelungen. Sicher, es gibt wirklich gelungene Tracks auf dem Album, aber sie gehen bei den vielen langweiligen Improvs schlichtweg unter.
Nach vielversprechenden Studioalben und überragenden Live-Kritiken hatte ich deutlich mehr von der sympathischen Truppe erwartet. Kein Wunder, dass das Album, das schon vor einigen Wochen erschienen ist, in der Szene fast komplett untergegangen ist. [sal: @@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Phideaux "Doomsday Afternoon"
(Retro-)Prog – Proggiger denn je, so gut wie noch nie
(CD; Bloodfish)
Mit erstaunlich hoher Frequenz ballern Phideaux Xavier und seine Band dem interessiertem (Prog-)Fan ein exquisites Album nach dem anderen um die Ohren. Er pendelt dabei zwischen Singer-Songwriter-Rock mit deutlichen 70er- und 80er-Referenzen und (deutlich seltener) ausgeprägt klassisch-epischem Progressive Rock (vor allem auf seinem 2005er Album "Chupacabras"). So gesehen ist das neue Album "Doomsday Afternoon" das genaue Gegenteil vom Vorgänger "The Great Leap", das vielleicht ähnlich ausgefeilt und verspielt war, aber definitiv songorientierter.
Auf "Doomsday Afternoon" schwelgt Phideaux (endlich) wieder in epischen Sphären. Das Album ist (quasi) ein einziges Suite-haftes Werk in zwei Akten, so vielschichtig und ausladend eingespielt, wie noch nie zuvor. Zum ersten Mal in der Karriere der transkontinentalen amerikanischen Truppe operierte man mit 'auswärtigen' Gastmusikern: Martin Orford (IQ), Arjen Lucassen (Aryeon, Stream of Passion), Matthew Parmenter und andere unterstützen Phideaux bei ihrem ambitioniertesten Album, das mit "An eco terror tale" untertitelt ist. Dass das Album nicht zur überambitionierten, schwülstigen, verkitschten und weltfremden Öko-Oper verkommt, ist dem Songschreiber-Talent von Frontmann Phideaux Xavier zuzuschreiben, der ein glaubwürdiges, dramatisch stimmiges Konzeptalbum geschrieben hat, das von Gabriel Moffat perfekt produziert wurde. Besonders hervorzuheben ist die wundervolle Gesangsarbeit der Co-Lead-Sängerin Valerie Gracious, die mit ihrer schönen Stimme dem Album eine besonders poetische Note verleiht.
Fazit: Altmodischer Prog, neu erfunden und unverkrampft dargeboten vom Chamäleon Phideaux Xavier und seiner Truppe. Wer die großen Konzeptalben der 1970er Jahre liebt, darf sich "Doomsday Afternoon" auf keinen Fall entgehen lassen. [sal: @@@@@]
<#483: Phideaux "Chupacabras"> [sal:Â @@@@@]
<#515: IQ "Stage"> [sal:Â @@]
<#500: Stream Of Passion feat. Ayreon "Live In The Real World"> [sal:Â @@]
<#390: Matthew Parmenter "Astray"> [sal:Â @@@]
<http://www.bloodfish.com/>
<http://www.justforkicks.de/>
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
The Watch "Primitive"
RetroProg – Die italienischen Genesis
(CD; Pick Up)
Entweder man verachtet sie oder man liebt sie (heimlich): Die italienische Truppe The Watch wandert auch auf ihrem neuen Album "Primitive" auf klassischen Genesis-Pfaden (Gabriel-Ära), vor allem dank der prägnanten Ähnlichkeit der Stimme des Frontmanns Simone Rossetti mit der des jungen Peter Gabriel. Die Band als Plagiateure abzustempeln, ganz so leicht sollte man es sich bei The Watch nicht machen: Ihr drittes Studioalbum ist zwar in der Tat durchdrungen vom Sound der frühen Genesis-Scheiben (nicht nur stimmlich, sondern auch musikalisch), doch erstaunlicherweise gelingt es der Truppe dank guter Kompositionen nicht wie andere Epigonen blutleer und überflüssig zu klingen. Neues wird man auf "Primitive" nicht hören, aber wer auf der Suche nach einem 'verlorenen' Genesis-Album ist, der sollte mit "Primitive" goldrichtig liegen.
The Watch spielen zusammen mit anderen Szene-Größen auf dem "Night Of The Prog II"-Festival auf der Loreley-Freilichtbühne am 21. und 22.7.2007. [sal: @@@]
Sleepytime Gorilla Museum "In Glorious Times"
AvantMetal – Introvertiert, gewalttätig, verspielt, roh, poetisch und rätselhaft
(CD; The End)
Nein, ihre verstörende Mischung aus Metal, Kammermusik, Theatralik, Poesie und Avantgarde ist gewiss nicht jedermanns Sache. Growls und fast zerbrechliche, dann wieder bedrohliche Vocals, eine Rockband mit Hackbrett, Violine und Trompete, dazu Tempi- und Modi-Wechsel en masse: Sleepytime Gorilla Museum machen es dem Hörer nicht einfach, verstoßen sie doch gegen so viele Hörgewohnheiten wie möglich. Alles, nur nicht banal, kitschig, inhaltsleer. Sie sind definitiv anders, die Musik auf ihrem dritten und besten Longplayer "In Glorious Times" ist introvertiert, gewalttätig, verspielt, roh, poetisch und rätselhaft, urban und ursprünglich gleichermaßen, oft genug gleichzeitig.
Sleepytime Gorilla Museum sind die genialste Band der letzten Jahre im Sektor Prog und mit nichts vergleichbar, was sich sonst das Etikett 'Progressive' anheftet. Ihre Musik begeistert und fasziniert oder irritiert und nervt den Hörer – nur kalt lässt sie einen nicht. Sie bleiben bei aller Avantgarde dennoch hörbar und ihre Live-Shows sind Gänsehaut erzeugende Events. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es dieses Jahr noch ein besseres Album dieser Art (und für mich persönlich überhaupt) geben wird. [sal: @@@@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
<#625: Cheer-Accident "Fear Draws Misfortune"> [sal:Â @@@@@]
<#555: Sal's Prog Corner #67> [sal]
Arti & Mestieri "First Live In Japan"
Progrock/Jazzrock – Italiens bester Drummer und seine Truppe
(CD; Moonjune)
In den 1970er Jahren katapultierte sich der Ausnahme-Schlagzeuger Furio Chirico mit nur einem Album seiner Band Arti & Mestieri (auf Deutsch ungefähr 'Kunst und Handwerk', das '&' liest sich auf Italienisch schlicht "e") in die Annalen des Progressive Rock: mit dem 1974 erschienenen Debüt "Tilt". Mit dem Nachfolger "Giro di valzer per domani" (1975) belegte die Band ihre außergewöhnliche Musikalität und Fingerfertigkeit, danach wurde es zunehmend banal und seit Mitte der 1980er Jahr still um den Drummer und seine Band.
2000 reformierten sich Arti & Mestieri überraschenderweise wieder und traten seitdem hauptsächlich live in Erscheinung. 2005 bereiste man zum ersten Mal das ferne Japan, wo Jazzrock traditionell einen guten Stand hat. Das vorliegende Album "First Live In Japan" dokumentiert den Auftritt vom 12.6.2005 in Kawasaki/Tokyo und bietet einen exzellenten Querschnitt der beiden herausragenden frühen Alben, sowie einige neue Stücken in exzellenter Tonqualität und mit unüberhörbarer Spielfreude. Wer die beiden frühen Meisterwerke schon kennt, wird an diesem Album auch Freude haben; Anfängern bietet das Live-Album eine gute Einstiegsmöglichkeit in eine wieder erstarkte italienische Prog-Legende. [sal: @@@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Alain Blesing "From The Beginning"
Avantgarde/Prog – Gelungene Cover-Versionen mit prominenter Besetzung
(CD; Musea)
Alain Blesing ist seines Zeichen Gitarrist der hierzulande leider eher unbekannten Zeuhl-Truppe Eskaton und ein altgedienter Recke in Sachen Avantgarde. Für sein jüngstes Solo-Projekt "From The Beginning", offensichtlich eine Art Rückblick auf seine musikalischen Wurzeln, hat er sich prominente Hilfe ins Studio geholt und spielt unter anderem mit Hugh Hopper (Soft Machine) und John Greaves (Henry Cow) Genre-Klassiker von Soft Machine, Henry Cow (ach neee...), Hatfield & The North, King Crimson und (überraschenderweise) Led Zeppelin, The Who und Jimi Hendrix in sehr individuellen und gelungenen Interpretationen. Dies ist sicher kein essentielles Album der Rockgeschichte, wohl aber ein gelungener, persönlicher Rückblick eines Vollblutmusikers.
Ein schwer zu ergatternder Geheimtipp, daher ohne Wertung. [sal]