#446 vom 25.07.2005
Rubrik Kolumne
Sal's Prog Corner #46
Die Sommerzeit ist klassischerweise die Zeit der trivialsten und debilsten Popmusik. Da kann man sich als Musikfan nur wundern, was da aus dem Radio gedudelt kommt. Glaubt man denn wirklich, dass alle Menschen im Sommer ihren gesunden Musikverstand verlieren?
Wie gut, dass auch in der wärmsten Jahreszeit genügend Veröffentlichungen aus ambitionierten Genres erscheinen, die den Hörer nicht entmündigen. Auch aus der großen Welt des Progressive Rock gibt es jede Menge Neuigkeiten. Ein Schwerpunkt der heutigen Ausgabe sind Reissues verlorener oder fast vergessener Schätzchen; dazu kommen einige hochinteressante Newcomer und Neuentdeckungen.
Auch dieses Mal gilt wie immer: Viel Spaß beim Lesen & keep on proggin'. [sal]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Van Der Graaf Generator "Godbluff / Still Life / Peter Hammill: Fool's Mate"
Klassischer Prog – Die verkannten Genies remastered, zweiter Teil (1975-1976 + 1971)
(CD; Virgin)
Nach den kurz hintereinander eingespielten Alben "The Least We Can Do Is Wave To Each Other" (1970), "H to He Who Am The Only One" (1970) und "Pawn Hearts" (1971), die erst kürzlich wiederveröffentlicht wurden, pausierte Van Der Graaf Generator einige Jahre. Der Frontmann Peter Hammill lancierte seine Karriere als Solist und löste sich bei seinen Alben schnell vom klassischen Sound des Progressive Rock.
Mitte der 1970er Jahre wurde die Band dann wieder aktiv und produzierte binnen weniger Monate noch vier exzellente Studioalben, bis sie sich dann für weitere 27 Jahre mit einem Live-Album von den Fans verabschiedeten. In dieser zweiten Phase rückte ein deutlich gereifter Hammill prägnanter in den Vordergrund. Nun war es nicht mehr allein sein ungewöhnlicher Gesangsstil, sondern auch seine Poesie, welche die Band von anderen abhob. Hammills Themen hatten zunehmend weniger mit der fantastischen Elfen- und Zaubererwelt des üblichen Progressive Rock zu tun, außerdem war der Sound nun vollends befreit von den psychedelischen Allüren früherer Jahre; insgesamt entschlackter und rockiger.
In der jetzt erschienenen zweiten Staffel der Remasters von Van Der Graaf Generator wurde neben den ersten beiden Alben dieser zweiten Bandphase "Godbluff" (1975) und "Still Life" (1976)
auch Hammills Solo-Debüt "Fool's Mate" (1971) veröffentlicht. Wie schon in der ersten Staffel, wurden die Alben auch mit umfangreichem Bonus-Material sowie informativen Linernotes ausgestattet. [sal: @@@@@]
<#436: Van Der Graaf Generator "Present"> [sal:Â @@@@]
<#388: Peter Hammill "Incoherence"> [sal:Â @@@@]
<http://www.vandergraafgenerator.co.uk/>
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Frogg Café "Fortunate Observer Of Time"
Jazzrock & Retroprog – Der dritte Streich der Frösche
(CD; Progrock)
Peu à peu spielt sich das US-amerikanische Quintett Frogg Café in die Herzen der Prog-Gemeinde. Ihre Mischung aus Jazzrock, Retroprog und Avantgarde in veränderlichen Gewichtsanteilen weiß auch auf ihrem dritten Studioalbum "Fortunate Observer Of Time" voll zu überzeugen. Dabei ist das Album eher eine kluge Evolution des schon superben Vorgängers "Creatures" (2003). Hie und da wurde noch ein wenig an der Professionalität der Produktion gefeilt und es wurde auf ein paar ungestüme Kanten des Vorgängers verzichtet. Nie klangen Frogg Café reifer und homogener als auf diesem Album. Hervorzuheben ist auch die deutlich verbesserte Gesangsleistung des Frontmanns Nick Lieto.
Trotz der 'Enhancements': Frogg Cafés Musik bleibt so frisch und abwechslungsreich, wie auf den beiden Alben zuvor. Nie zuvor habe ich eine Band gehört, die zappaesque Sounds mit Jazzrock und augenzwinkernden Retroprog-Anklängen und einem gehörigen Schuss Melancholie mischt, wie Frogg Café bei "No Regrets", dem Highlight des Albums. Und ich bin sicher: Das beste Album dieser Formation werden wir noch hören. [sal: @@@@]
<#411: Frogg Café "Frogg Café"> [sal: @@@@]
<http://www.froggcafe.com/>
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
<#543: Frogg Café "The Safenzee Diaries"> [sal: @@]
La Düsseldorf "La Düsseldorf / Viva / Individuellos"
Krautrock – Klaus Dingers Visionen einer Popmusik für die 1980er endlich auf CD erhältlich (1976, 1978, 1980)
(CD; Warner)
Wenn jemals an einer Vision für eine spezifisch deutsche Pop- und Rockmusik fernab jeglichen Heimatmiefs gebastelt wurde, dann war Düsseldorf bestimmt das Zentrum dieser Bestrebungen. Bands wie Kraftwerk, Harmonia und Neu! prägten in den 1970er Jahren einen typisch deutschen Sound: Elektronisch und doch melodisch verspielt, zeitkritisch und leise ironisch, gleichsam 'typisch deutsch' wie universell.
Klaus Dingers Nachfolgeprojekt der legendären Krautrockformation Neu! hieß La Düsseldorf und produzierte zwischen 1976 und 1980 drei Alben: "La Düsseldorf" (1976), "Viva" (1978) und "Individuellos" (1980), die nun endlich nach über 25 Jahren zum ersten Mal offiziell auf CD veröffentlicht wurden. Die Mischung aus Elektronik, Punk, Avantgarde und progressiven Klängen ist auch heute noch eines der eigentümlichsten deutschen Projekte überhaupt. Vor allem das zweite Album "Viva" hatte phalanxartigen Einfluss auf die avantgardistische Popmusik im In- und Ausland, die bald den 1980er Jahre ihren unverwechselbaren Stempel aufdrücken sollte – bevor der kommerzielle Rummel die Popkultur schnell degenerieren ließ. [sal: @@@@@]
Man On Fire "Habitat"
Neoprog – Zwölf Songs, zehn Leben, ein Straßenblock
(CD; Progrock)
Was für eine ungewöhnliche Idee für ein Konzeptalbum: Statt der üblichen Fantasy-Geschichte à la 'Elfe verliebt sich in Loser-Typen' erzählt die US-amerikanische Formation Man On Fire auf ihrem dritten Album "Habitat" die Geschichte eines Stadtviertels. In zwölf Songs erhalten wir Einblick in verschiedene Vitae der Bewohner eines Straßenblocks, die nicht unterschiedlicher sein könnten: Die alleinerziehende Mutter, das Gang-Mitglied, der Künstler, der korrupte Bulle, der abgehalfterte Schauspieler usw. – sie alle verbindet nur der Wohnort. Textlich und musikalisch werden folgerichtig die unterschiedlichen Charaktere entsprechend abwechslungsreich umgesetzt. Hierbei geben sich Man On Fire unkonventionell: Deutlich unverkrampfter als bei den meisten anderen Prog-Kollegen groovt "Habitat" nicht unwesentlich. An den Keyboards bindet Mastermind Jeff Hodges eine Vielzahl moderner, manchmal schriller, manchmal ironisch eingesetzter Elemente ein. Geadelt wird das Album durch die essentielle Mitarbeit von David Ragsdale (Kansas) an der Violine und einem unverkrampft aufspielenden Adrian Belew (King Crimson) an der Gitarre. Eine kurzweilige Scheibe: Urbaner Prog des 21. Jahrhunderts. [sal: @@@@]
<#332: King Crimson "The Power To Believe"> [sal:Â @@@@]
<http://www.manonfireband.com/>
Between "Einstieg (Re-Entry) / And The Waters Opened"
Avantgarde – Zwischen allen Stühlen der U- und E-Musik (1971, 1973)
(CD; Intuition)
Eigentlich wollten sie sich B.A.C.H. nennen, als sinnreiche Anspielung auf den großen Barockkomponisten und vor allem auf ihre sehr individuelle Musik, die sie als 'zwischen allen Stühlen' ('Between All CHairs') empfanden. Als sie sich belehren lassen mussten, dass es diesen Ausdruck im Englischen so nicht gibt, wählten das in München beheimatete internationale Quartett schlicht "Between" als Sinnbild für die Gleichzeitigkeit von Dingen, die sich eigentlich ausschließen. Passender kann man auch heute ihre Musik nicht beschreiben.
Lange bevor es en vogue war, spielte die Formation auf sechs Alben zwischen 1971-1980 für das Neue-Musik-Label Wergo Kompositionen ein, die wir auch heute noch mit Etiketten wie Crossover, World Music und Unplugged nur unzulänglich kennzeichnen könnten; seinerzeit war Betweens Musik in vielen Dingen revolutionär. Auch heute noch erstaunt die Qualität dieser Symbiose aus Kammermusik, Avantgarde, Folk, mittelalterlicher und fernöstlicher Musik sowie psychedelischer Rockmusik.
Von ihren sechs Alben wurden bereits die Alben "Hesse Between Music" und "Dharana" (beide 1974) auf Wergo als CDs wiederveröffentlicht. Die restlichen Alben folgen mit optimalem Klang auf Intuition; den Anfang machen die beiden frühen Alben "Einstieg (Re-Entry)" (1971) und "And The Waters Opened" (1973). [sal: @@@@@]
Present "A Great Inhumane Adventure"
Avantgarde – Belgische Avantgarde live
(CD; Cuneiform)
Die verrückten Belgier von Present um Bandkopf Roger Trigaux lassen sich mit dem Nachfolger ihres bisher besten Albums "High Infidelity" Zeit. Recht so: Gut Dinge will Weile haben.
Derweil kann sich der Fan der Avantgarde-Formation an das Live-Album "A Great Inhumane Adventure" halten. Das Album ist ein Mitschnitt eines Konzerts vom 6.6.1998 in Baltimore, dem letzten Konzert einer US-Tournee. Klangtechnisch und interpretatorisch gibt es an dem Album nichts auszusetzen. Seltsam ist nur, dass hier sieben Jahre alte Aufnahmen veröffentlicht wurden mit einer Tracklist, die deutliche Überschneidungen zum Album "Live!" (1996) aufweist. Immerhin zwei (von fünf) Songs sind hier 'neu' zu hören. Trotz dieser Einschränkung: Wer letztgenanntes Album nicht hat, wird an den schrägen, kantigen und bitterbösen Songs seine helle Freude haben. Die anderen mögen selbst entscheiden, ob sie das Album unbedingt brauchen. [sal: @@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
<#625: Extra Life "Secular Works"> [sal:Â @@@@]
<#520: Franck Balestracci "Modified Reality"> [sal:Â @@@@]
<#507: Nebelnest "Zepto"> [sal:Â @@@@]
Rain "Cerulean Blue"
Konzeptalbum – Poesie und Schönheit
(CD; Telos)
"Cerulean Blue" heißt das betörend schöne und poetische Debüt des englischen Studioprojekts Rain, das mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht wurde (u.a. aus dem direkten Genesis-Umfeld). Völlig zurecht: Die Geschichte einer wundersamen Reise durch Amerika zwischen grausamer Realität, Traum und Wahnsinn gehört zu den bezauberndsten Scheiben, die ich in den letzten Jahren gehört habe. Musik, Poesie und Gesang, Arrangements, Chöre und Kompositionen von fast klassischer Schönheit, die den Zuhörer regelrecht berauschen und ihn mitnehmen auf dieses 'musikalische Roadmovie'. Würde es heute noch einen Massenmarkt für solche Musik geben, dann wären Rain meine diesjährigen Kandidaten für das next big thing, doch auch aus der Nische des Progressive Rock wird man von diesem Projekt in Zukunft hören.
Das komplette Album steht auf der Website in ordentlicher Audioqualität (96kbit, 44 kHz, Joint Stereo) zum freien Download bereit. Dort kann die CD auch günstig via Paypal erworben werden; selbstverständlich findet man die Scheibe ebenso beim spezialisierten Händler. Die bis ins kleinste Detail sorgfältig gestaltete CD ist es auf jeden Fall wert. [sal: @@@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight