#246 vom 04.06.2001
Rubrik Texte - lesen oder hören
Fremd- und Selbstgelesenes
Neben der Musik gibt es heute ein paar Tipps zum Vorlesen lassen und zum Selberlesen. [mmh]
Raymond Jean / Andreas Lammers "Die Vorleserin"
Audio-Art – ein erotisches Hörspiel
(Hörbuch Hamburg)
Erst war's ein bezauberndes Buch (von Raymond Jean), dann ein Film zum Verlieben (von Michel Deville und mit Miou-Miou). Nun also "Die Vorleserin" auch als Hörspieleinrichtung, was einer erotischen Liebeserklärung an die Literatur gleichkommt.
Marie Constance hat Studium und Schauspielschule abgebrochen und lebt in den Tag hinein, bis eine Freundin vorschlägt, sich per Annonce als Vorleserin anzubieten. Dies bringt die junge Frau in verschiedenste Umgebungen und in aberwitzige Situationen: Ein Junge hört von ihr Maupassant, ein Direktor von Georges Perec, eine Gräfin verlangt nach Marx, und ein Kunde de Sade. Mit Verführungskraft oder spöttischem Unterton serviert die Vorleserin die Lesefrüchte, und jeder Kunde bekommt, was er will... bis einer der Klienten eine Grenze überschreitet.
Ein rundum sinnliches, federleichtes Sommerhörvergnügen mit den Stimmen von Svenja Pages, Friedhelm Ptok, Alexandra Henkel, Gisela Trowe, Peter Striebeck u.v.a. [gw]
Henning Mankell / Angelika Kutsch "Der Hund, der unterwegs zu einem Stern war"
Audio-Art – Lesung
(3CD; Deutsche Grammophon)
Mit seinen psychologischen Sozio-Krimis ("Die fünfte Frau", "Die falsche Fährte") steht Henning Mankell ganz weit oben in den Bestsellerlisten. Dass der schwedische Dramatiker und Theaterregisseur auch anders kann, zeigen seine Kinder- und Jugendromane – allen voran die 'Joel-Trilogie', die bereits mit diversen Preisen ausgezeichnet wurde. Für die Lese-Einrichtung von Angelika Kutsch konnte Frank Arnold ("Heimat") als Erzähler gewonnen werden, der jeder der Figuren eine eigene charakteristische Stimmlage leiht.
Im ersten Teil ist Joel Gustafsson 11 Jahre, und lebt mit seinem Vater Samuel in einem kleinen nordschwedischen Nest. Mama Jenny hat die beiden verlassen und ist weggezogen. Joel sehnt sich nach dem Meer und beginnt ein Logbuch, in dem aus seinen alltäglichen Erlebnissen Abenteuer auf hoher See werden. Und er gründet einen Geheimbund, der nach dem mysteriösen titelgebenden Hund suchen soll. Joel lernt bei seinen Streifzügen einen alten Mann, die nasenlose Gertrud, einen anderen Jungen, Sara, die neue Freundin seines Vaters, aber vor allem sich selbst besser kennen. Nach einer gefährlichen Mutprobe weiß Joel, dass er stärker ist, als er dachte, er ist endlich 12 geworden, und hat gelernt, was falsche Freundschaften sind. [gw]
Ray Bradbury "Die Mars-Chroniken"
Effektvoller als jedes Kinospektakel: Die Mars-Chroniken als Audiobook
(7CD; Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen)
Ray Bradbury, 1920 geboren in Illinois, der Revolutionär der Science-Fiction der 1950er Jahre – weil Erweiterer der Themen und Sprache, schrieb sich mit nur einem Werk schon in die Literaturgeschichte ein, mit "The Martian Chronicles" (Mai 1950). Dieser Roman in Erzählungen war zunächst in Sci-Fi-Magazinen wie "Thrilling Wonder Stories" nach und nach erschienen. Erst als Buch erregten die 34 Erzählungen der "Mars-Chroniken" Aufsehen. Und sie ziehen mit allem mindestens gleich, was die anderen Großen – Arthur C. Clarke, Philip K. Dick, Stanilaw Lem, Alfred Bester, Robert A. Heinlein, Frank Herbert und Isaac Asimov – je zu Papier gebracht haben.
Die Vielfalt der von Bradbury hier versammelten Geschichten um verzweifelte Versuche der Menschen, den Mars zu besiedeln, nimmt einem den Atem. Vor allem, wenn man sie derart perfekt vorgetragen bekommt wie von Hans Eckardt. Seine Stimme hat eine trockene, sachliche Grundierung, über die er nuancenreiche, oft skeptisch klingende Zwischentöne legt. Und genau diese Mischung gibt den unerhört gedankenreichen, philosophischen, gruseligen und psychologischen Sci-Fi-Stories eine fesselnde Wirkung. Das auf 7 CDs, 505 Minuten lang. Eine absolut wertvolle 5-Sterne-Produktion. [vw]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Günter Amendt "Back To The Sixties. Bob Dylan zum Sechzigsten"
(CD; Konkret Literatur)
Günter Amendt ist der beste deutsche Schreiber, wenn es um das Thema "Bob Dylan" geht. Leider ist dieses Buch hier auf 90 von 158 Seiten das vor 10 Jahren erschienene "The Never Ending Tour" vom gleichen Autor. Damals kostete es 12 DM, heutzutage 12 EUR. The times, they are... wirklich?
Teil eins des Buches ist spannend: Der Text Amendts zu der "Langen Nacht", die der Deutschlandfunk am 18./19. Mai 2001 ausstrahlte. Am 21. Mai gab Amendt in der Stadtbibliothek Neuss eine Lesung daraus. Tja, er hat mit IHM auf der Tour von 1978 gesprochen, begleitete IHN im Zug von Berlin über Dortmund, Nürnberg nach Paris. Das beflügelt ihn (den Amendt) zu einigen präzis geschilderten Anekdoten, die so ein kleinwenig den Schleier lüften, der sich für uns Ausgeschlossene um Dylans Leben zwischen den Konzerten legt.
Grandios surrealistisch ist die Schilderung der Szene, wie Amendt dem Bundesminister der Verteidigung Scharping ein Konzert-tape von "Masters Of War" zukommen lässt, und wie das Dankesschreiben bestätigt, dass der Minister "...die Aufnahme gern an sich genommen..." habe und sein Referent sie "...schon mehrfach aus seinem Büro erklingen gehört..." habe: Während Deutschland Truppen und Tornados nach Bosnien schickt...
Die unveränderten Kommentare zu den damals jeweils neu erschienenen Platten sind allerdings schimmelig und stockfleckig geworden. Gut geschrieben, aber einfach 15-20 Jahre alt. Ob sich seitdem Perspektiven nicht verschoben haben könnten? Singt nicht auch Dylan jedes Jahr seine Songs anders? Irgendwie kamen zu Dylans 60stem immer nur Recycling-Verwurster zu Werke. Das, was uns Sony als "Ultimate Collection" verkauft, ist "The Essential" aus dem Jahr 2000 und als 'Limited Edition' bestickert gewesen. Schlecht vorbereitete Moderatoren plapperten Unverstandenes ("Newport? Wo die Zuschauer 'Judas!' riefen?!") und Willi Winkler stammelte sich nichtssagend durch die Sendezeit.
Günter, die 68 neuen Seiten sind so gut, so präzise, so sezierend deutlich über die Seelenlage des Idols und seiner Fans. Hättest Du nicht ein bisschen mehr Aktuelles beschreiben und die alten Texte einfach draußenlassen können? [www]
Jochen Hörisch "Der Sinn und die Sinne"
(CD; Eichborn)
Medien-Bücher, aus welchen man anders 'heraus' kommt, als man 'hinein' gegangen ist, also etwas gelernt, und sich dazu auch noch prächtig unterhalten hat, sind wohl eher Glücksfälle. Bisher kannte ich derartige Machwerke mit viel Wissen und ohne Charme, oder die Alternative aus tiefergelegtem Klamauk ohne Wissen.
Bei Jochen Hörisch und seinem Mediengeschichtsbuch "Der Sinn und die Sinne" ist das alles anders. In dieser kurzweiligen Tour vom medialen Big Bang bis zum Internet geht es u.a. um: Ursprünge, die Schrift, die Buchdruckkunst, Photographie, das Lesen, die Verkabelung der Welt, Radio, Film, Fernsehen, Computer, Schellack, die Langspielplatte, Jukeboxen, Hörbücher, den Walkman, Stereophonie, das Kino, Hörspiele, CDs, Video, und natürlich den PC. Als Buch kann es seine Themen kaum abbilden, und es kann kein Update herunterladen, aber es braucht auch keinen Virus zu fürchten. Statt dessen gibt es äußerst geistreiche Überlegungen zur Sinnproduktion.
Die "Mediengeschichten" – von Jochen Hörisch selbst gelesen und mit schrillen Spots versehen – sind auch auf Doppel-CD erschienen. Einhundertfünfzig Minuten lang bringt der Autor die geheimen Codes im Rauschen der alten und neuen Medien zu Gehör. Eine rasante Mixtur von Analysen, Clips und Signalen, kunstvoll gemixte Geschichten und Geräusche vom Urknall bis zum Internet. [gw]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben: