#587 vom 16.06.2008
Rubrik Feature
Interview mit Billy Bragg: »Wir müssen den Zynismus überwinden«
Billy Bragg und sein neues Album: Liebeslieder statt Politik
Billy Bragg ist grau geworden. Der derzeit wohl wichtigste politische Songschreiber in England ("A New England") ist aber immer noch da und verspürt viel 'polemische Energie'. Die allerdings hat er vor allem in sein Buch "A Progressive Patriot" gesteckt. Sein neues Album "Mr. Love & Justice" hingegen enthält mehr Liebeslieder. Im Gespräch erläutert Bragg, warum das so ist, erzählt von einer interessanten und produktiven Begegnung auf der Suche nach frischen Rhabarber und bekräftigt, noch immer Punk zu sein. (Übrigens: Im Juli-Heft des Folker! wird ein längerer Artikel des Autors erscheinen, in dem Bragg auch über seine Zeit in der DDR berichtet).
Helge Buttkereit: Ihr letztes Album erschien schon 2002 ("England, Half Englisch") und das aktuelle ist meiner Ansicht nach weniger politisch als ihre älteren Arbeiten. Fällt es Ihnen schwer, in diesen Zeiten politische Songs zu schreiben?
Billy Bragg: Nein. Es war so: 2004, als es Zeit für ein neues Album war, schrieb ich ein Buch über Identitäten. Das war die Antwort auf die Wahl einiger Politiker vom rechten Rand in der Stadt, aus der ich komme. Als ich neue Songs schrieb, hatte ich keine polemische Energie. Die habe ich für das Buch gebraucht. Die Songs, die da entstanden, handelten eher von Liebe als von Politik. Aber es gibt auch Titel, die beides zum Thema haben. "I Keep Faith" ist zum Beispiel vor allem ein politischer Song und ebenfalls ein Liebeslied.
Inwiefern ist es schwerer, heute relevante Texte zu schreiben als in den 80ern, wo mit Margret Thatcher der Gegner klar sichtbar war und der Ost-West-Konflikt für klare Verhältnisse sorgte?
Billy Bragg: Die Ideologie hat sich seit den 1980ern geändert, als ich meine ersten Songs schrieb. Ich habe realisiert, dass unsere Gegner, Konservativismus, Kapitalismus, Rassismus, also alles, was einer besseren Welt entgegen steht, allesamt Manifestationen eines elementaren Problems unserer Gesellschaft sind: Zynismus. Auch unser eigener Zynismus: Kann ich etwas ändern? Soll ich überhaupt? In "I Keep Faith" versuche ich zu sagen, dass man daran glauben muss etwas ändern zu können. Wir können eine bessere Gesellschaft aufbauen. Die Zyniker wollen, dass wir uns kraftlos fühlen, dass wir denken, wir sind wertlos. Wir müssen also zunächst unseren Zynismus überwinden, um den der Gegner zu bekämpfen. Darüber schreibe ich jetzt.
Bei "I Keep Faith" singt Robert Wyatt (Soft Machine) im Hintergrund. Wie kam es dazu?
Billy Bragg: Bei den Aufnahmen waren wir in Lincolnshire, der Region, in der Wyatt wohnt. Ich habe mir von unserer Köchin einen Rhabarber-Auflauf mit Streuseln gewünscht. Dafür brauchten wir frischen Rhabarber. Ich fuhr also in die Stadt, parkte und da saß Robert Wyatt und rauchte eine Zigarre. Er lebt in der Stadt. Das wusste ich nicht. Ich habe ihn seit den 1980ern nicht mehr gesehen, das war ein Wiedersehen! Wir tranken Kaffee, unterhielten uns, und er gab mir Rhabarber. Er bekam ein Demo des Songs und ein paar Tage später kam er ins Studio und lieferte diesen wunderschönen Hintergrundgesang ab.
Besteht die Möglichkeit einer weiteren Zusammenarbeit mit Wyatt?
Billy Bragg: Ich hoffe doch. Ich würde mich sehr freuen!
Die Musik des neuen Albums bewegt sich zwischen Folk, Weltmusik und amerikanischen Tönen ...
Billy Bragg: ...ja, Soul. Der hat mich und meine Musik immer beeinflusst. Ich bat die Musiker zu den ersten Aufnahmen nur akustische Instrumente mitzubringen. Das hatten wir bereits bei einer Show gemacht, als wir ohne Keyboard auskommen mussten. Auch die alten Titel, "Milkman Of Human Kindness" oder "Levi Stubbs Tears", hörten sich sehr gut an. Viele der Songs auf dem neuen Album – "You Make Me Brave", "If You Ever Leave", "M For Me", "I Almost Killed You", "O Freedom" – stammen aus diesen ersten Sessions.
Wenn Sie politisch werden, zum Beispiel bei "The Beach Is Free", werden die Rhythmen weltmusikalisch.
Billy Bragg: Einige meiner Mitmusiker haben viel in Weltmusik-Bands gespielt, so dass dieser Rhythmus immer mitschwingt.
Eines aber fehlt: Punk.
Billy Bragg: Punk ist kein Sound, sondern ein Gefühl, eine Einstellung. Du hast es im Herzen. Ich bin immer noch Punk. Aber ich zwinge mich nicht politisch-polemische Lieder zu schreiben. Am Ende ist das Album so wie es ist und ich versuche nicht die Songs etwas punkiger zu machen. Kürzlich habe ich in London ein Konzert gegeben und als Zugabe gab ich mein ganzes erstes Album ("Life Is A Riot With Spy Vs. Spy"), alle sieben Songs. Wirklich schnell. Es ist eigentlich 17 Minuten lang, ich habe es in 15 Minuten gespielt. Ich kann es also immer noch. Der Punk ist noch da.
Vielen Dank für das Gespräch!
(Zuerst erschienen in der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen) [hb]
Permalink: http://schallplattenmann.de/a117098