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[ << | Inhalt | >> ]Ausgabe #545 vom 30.07.2007
Rubrik Texte - lesen oder hören

H.G. Wells "Die Zeitmaschine"

Hörbuch über die Abenddämmerung der Menschheit oder: Die Wahrscheinlichkeit eines wünschenswerten Ereignisses ist oft weniger als die Hälfte
(3CD; Patmos)

Im Jahr 1888 erschien unter dem Titel "The Chronic Argonauts" H.G. Wells erste literarische Arbeit, die 1895 als erweiterte Fassung und unter dem neuen Titel "The Time Machine. An Invention" veröffentlicht wurde. Mit seinem ernsthaften und düsteren Roman von der vierten Dimension schlug die Geburtsstunde der modernen Science Fiction. "Die Zeitmaschine" gilt als eine der frühesten Anti-Utopien und die erste Zeitreise-Story, die auf wissenschaftlichen Spekulationen beruht.
Der aus dem englischen Kleinbürgertum stammende Herbert George Wells, geprägt von biologischer Sichtweise, Evolutionstheorie und Kosmologie, argumentiert als Autor auf sozialistischer Basis, übt zugleich aber auch Kritik an optimistischer Fortschrittsgläubigkeit. "Die Zeitmaschine" lässt sich sowohl als beeindruckende Abenteuer-Geschichte, aber auch als Darstellung eines ins Extrem gesteigerten Klassenkampfs und somit als konsequente Attacke gegen den Sozialdarwinismus lesen.
Orte der Handlung sind London, Wimbledon und Battersea. Zu Beginn erwartet der namenlose Zeitreisende von künftigen Zeiten blühende Paradiese, wird aber rasch eines Besseren belehrt. Sein vermeintliches Eden kennt keine Technik, keine Kultur, keinen Staat – und nicht einmal humane Wesen. Wie am Beginn mit Homo sapiens und Neanderthaler, gibt es auch in der Abenddämmerung der Menschheit zwei Rassen. Die kannibalistisch dämonischen Morlocks als Neo-Proletarier und die kindlich-naiven arkadischen Eloi als Neo-Kapitalisten. Oppositionsgruppen, die direkt in die Zeit zurückweisen, die der Reisende und mit ihm auch der Autor verlassen hat. Statt zu einem begeisterten Forscher wird der Zeitreisende zu einer hoffnungslosen Figur, die zwischen Trümmern und Relikten jede Illusion auf eine bessere Welt begraben muss. Die idealistische Entwicklung des Menschen zu etwas Höherem hat nicht stattgefunden. Utopia hat es nie gegeben. Die Wahrscheinlichkeit eines wünschenswerten Ereignisses ist oft weniger als die Hälfte.
Wer für 'Chronokokolores' etwas übrig hat, aber der kitschsüßen US-Verfilmung (1960) wenig abgewinnen konnte bzw. die Neuverfilmung peinlich fand, dem sei hiermit das literarische Original ans Herz gelegt. Besonders weil sich die vorliegende ungekürzte, neu übersetzte Lesefassung (Annie Reney und Alexandra Auer) dem haptischen Standardwerk (Diogenes Verlag) überlegen zeigt und das Hörbuch mit dem superben Vorleser Götz Otto ("Der Untergang", "Schindlers Liste", "Der Morgen stirbt nie") sowie der Musik von Russell Garcia in jeder Beziehung überzeugt.
Sind wir nicht alle Zeitreisende, denn was ist das Leben anderes, als eine Reise in der Zeit? [gw: @@@@]


Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:


@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight


Permalink: http://schallplattenmann.de/a116078


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