#708 vom 18.04.2011
Rubrik Feature
Klassische Musik zur Osterzeit
Der fünfte Jahrgang von "Klassische Musik zur Osterzeit" steht dieses Mal ganz im Zeichen eines Jubilars: Die Musikwelt erinnert sich des spanischen Renaissance-Meisters Tomás Luis de Victoria (~1548-1611), dessen 400. Todestag heuer gedacht wird. Gleich zwei Spitzen-Ensembles haben aus diesem Grund ihre Victoria-Veröffentlichungen zu Sammelboxen zusammengefasst.
Ergänzt werden die diesjährigen Ostermusik-Empfehlungen mit barocker Chormusik von Johann Sebastian Bach (1685-1750) und vom zeitgenössischen lettischen Komponisten Ēriks EÅ¡envalds (*1977). Ein Zufall ist es, dass dieses Jahr alle vier Veröffentlichungen aus Großbritannien kommen, das allerdings seit jeher das wohl aktivste und traditionsreichste Land in Sachen Chormusik ist. Die Musik hingegen bietet zeitlich und geographisch ein breites Spektrum der sakralen Musik Europas. [sal]
Tomás Luis De Victoria / The Tallis Scholars, Peter Phillips "The Victoria Collection"
Renaissance/Chormusik – Das Beste der Victoria-Aufnahmen der Tallis Scholars (1987, 1990, 2010)
(3CD; Gimell)
Mitte der 1980er Jahre wurde die Musik von Tomás Luis De Victoria (~1548-1611) wiederentdeckt. Seitdem wurde das zuvor fast unbeachtete Œuvre des spanischen Renaissance-Meisters Stück für Stück erarbeitet. Mittlerweile wird Victoria von Musikwissenschaft und Kritik auf einer Stufe mit den anderen herausragenden Komponisten des 16. Jahrhunderts Giovanni Pierluigi da Palestrina (~1514-1594) und Orlando di Lasso (1532-1594) eingeordnet. Die Initial-Zündung für diese Entwicklung war zu einem gewissen Grad die überaus erfolgreiche Einspielung des "Requiem" (eigentlich die "Missa pro defunctis") der Tallis Scholars im Jahre 1987.
Gerade noch rechtzeitig zum Osterfest erschien nun eine preisgünstige 3-CD-Box, die diese bahnbrechende Aufnahme des Requiem mit zwei weiteren erfolgreichen Aufnahmen koppelt, nämlich den "Tenebrae Responsories" (1990) und den "Lamentations of Jeremiah" (2010). Allen drei Veröffentlichungen ist die große Kompetenz der Tallis Scholars für diese Musik gemein (das Ensemble führt konsequent nur Musik des 16. Jahrhunderts auf), allen drei Aufnahmen ist auch eine kaum zu überbietende Perfektion und Ebenmäßigkeit in der Ausführung gemein. Victorias Kompositionen sind bei den Tallis Scholars eine tief spirituelle, mystische, zeitlos schöne Musik. [sal: @@@@@]
<http://de.wikipedia.org/wiki/Tomás_Luis_de_Victoria>
<http://de.wikipedia.org/wiki/Giovanni_Pierluigi_da_Palestrina>
<http://de.wikipedia.org/wiki/Orlando_di_Lasso>
<http://www.thetallisscholars.co.uk/>
<http://youtu.be/f510B8GFZzI>
Tomás Luis De Victoria / The Sixteen, Harry Christophers "The Victoria Collection"
Renaissance/Chormusik – Fast alle Victoria-Aufnahmen des Ensembles The Sixteen (1997, 1998, 2005)
(4CD; Coro)
Der gleiche Titel, eine Tracklist mit Überschneidungen, die englische Herkunft der ausführenden Ensembles, das gleiche Weltklasse-Niveau: Vieles an der neuen Sammel-Veröffentlichung "The Victoria Collection" von The Sixteen unter Harry Christophers ähnelt der einige Wochen später erschienenen "The Victoria Collection" der Tallis Scholars. Vergleicht man jedoch die Interpretationen, so sind bei aller Präzision, die beide Ensembles an den Tag legen, auch deutliche Unterschiede zu hören.
Während die Tallis Scholars das Mystische in Victorias Kompositionen (und dessen Spiritualität) durch einen fast hypnotisierend wirkenden, ebenmäßigen Gesang betonen, legen Harry Christophers – ein bekennender, glühender Victoria-Verehrer – und sein Ensemble die Betonung vielleicht etwas mehr auf das Emotionale in der Musik. Der Unterschied zwischen den Deutungen ist zwar nicht revolutionär, aber deutlich wahrnehmbar und sorgt für ein anderes Hörerlebnis. Christophers betont immer wieder, dass er (wenn überhaupt) es nur Victoria zubillige »Gefühl vollständig in Musik auszudrücken«. Hört man die vier hier zusammengefassten Veröffentlichungen "Devotion to our Lady" (1997), "The Mystery of the Cross" (1998), "The Call of the Beloved" (1998) und "Requiem 1605" (2005), ist man geneigt ihm recht zu geben. So aufwühlend nimmt man Renaissance-Musik selten wahr.
Bliebe also die Frage zu klären, wer denn nun im Vergleich 'gewinnt', The Tallis Scholars oder The Sixteen? Die Antwort ist ganz einfach: Tomás Luis de Victorias Musik gewinnt. Zwei Weltklasse-Ensemble führen seine Werke 400 Jahre nach seinem Tod auf allerhöchstem Niveau auf. Der Renaissancemusik-Fan wird an beiden Sammlungen über kurz oder lang nicht vorbeikommen, trotz oder gerade wegen der Überschneidungen. [sal: @@@@@]
Johann Sebastian Bach / Retrospect Ensemble "Easter & Ascension Oratorio"
Barock/Chormusik – Neuaufnahmen auf Spitzenniveau
(SACD; Linn)
Endlich erscheint einmal eine Veröffentlichung, bei der die beiden 'kleinen' Oratorien von Johann Sebastian Bach (1685-1750), das Oster-Oratorium (BWV 249) und das Himmelfahrtsoratorium (BWV 11), nicht bloß Beiwerk zu 'großen Werken' sind, sondern im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Das erst 2009 gegründete, hervorragend besetzte Londoner Retrospect Ensemble belegt mit vier Spitzen-Vokalisten (Carolyn Sampson, Sopran; Iestyn Davies, Countertenor; James Gilchrist, Tenor; Peter Harvey, Bariton), dass diese stets etwas im Schatten ihrer 'großen Brüder' (dem Weihnachtsoratorium und den beiden Passionen) stehenden Werke, diesen in nichts an Genialität und Musikalität nachstehen.
Mit (nahezu) akzentfreiem Gesang und schönen Stimmen, aber auch mit einem musikalisch ungemein frisch agierendem Ensemble und – last, but not least – mit einer überragenden Aufnahmetechnik weiß diese Aufnahme rundum zu überzeugen. Das Retrospect Ensemble pflegt zügige, aber nicht zu forsche Tempi und vermeidet schroffe Wendungen, stattdessen hört man einen ungewohnt freundlich-feierlichen Bach, vielleicht auch, weil Bach in den beiden Oratorien Teile früherer weltlicher Kantaten wiederverwendet hat. Wenn dann Carolyn Sampson im Oster-Oratorium "Seele, deine Spezereien" voller Gefühl singt, wähnt man sich tatsächlich der göttlichen Schöpfung ganz nah. [sal: @@@@]
<#575: Johann Sebastian Bach / Dunedin Consort & Players, John Butt "Matthäuspassion BWV244"> [sal: @@@@]
<#528: Johann Sebastian Bach / Berliner Symphoniker, Karl Forster "Johannespassion BWV245"> [sal:Â @@@@]
<http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Sebastian_Bach>
<http://de.wikipedia.org/wiki/Oster-Oratorium_(Bach)>
<http://de.wikipedia.org/wiki/Lobet_Gott_in_seinen_Reichen>
<http://www.retrospectensemble.com/>
Ēriks EÅ¡envalds / Polyphony · Britten Sinfonia, Stephen Layton "Passion And Resurrection"
Moderne/Chormusik – Internationales Debüt eines lettischen Newcomers in Starbesetzung
(CD; Hyperion)
In den baltischen Republiken gab es immer schon eine breit gefächerte, hochklassige Musik-Szene, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder richtig aufblühte und nun, rund 20 Jahre danach, zu einem bedeutenden Faktor in der europäischen Szene der zeitgenössischen Musik geworden ist. Zahlreiche baltische Komponisten und Solisten werden nun in Westeuropa und den USA entdeckt, die zu Hause schon seit jungen Jahren gefeiert wurden.
Der Komponist und Tenor Ēriks EÅ¡envalds (*1977) ist solch ein Beispiel: Wie viele seiner Landsleute lässt er sich musikalisch nicht in die gängigen Kategorien einordnen. EÅ¡envalds jetzt schon beeindruckend großes Å’uvre ist ein Spiegel ganz unterschiedlicher Einflüsse: Dissonanz oder Konsonanz, schlichte Melodien oder rhythmisch komplexe Gebilde, seine Werke folgen keiner bestimmten Schule, sondern passen sich dem jeweiligen Anlass, dem jeweiligen Ziel der Komposition an.
Entsprechend abwechslungsreich ist dann auch sein internationales Debütalbum geworden, das ganz unterschiedlich geartete Werke zusammenfasst. Während "Legend Of The Walled-In Woman" südosteuropäische Volksmusik-Einflüsse und Legenden verarbeitet, überrascht "Long Road" mit der an ein Kirchenlied erinnernden Schlichtheit, während das Hauptwerk dieser CD, "Passion And Resurrection", ein ineinander greifendes Netz von Texten und Stilen ist, die fragmentarisch bleiben und sich dennoch zu einem Ganzen zusammenfügen, ganz wie bei einem Mosaik, das man erst ganz erfassen kann, wenn man nicht die Einzelteile, sondern das Gesamtbild betrachtet.
Es bedarf schon eines so unglaublich vielseitigen Ensembles wie Polyphony – spätestens seit der phänomenalen Messiah-Aufnahme (2009) mein erklärter Lieblingschor – um so eigentümlich eklektizistische, facettenreiche Werke als ein betörendes Klangerlebnis zu gestalten. Nicht zuletzt wegen der hervorragenden Ensemble-Leistung ist "Passion And Resurrection" eine überraschende, überaus gelungene Empfehlung (nicht nur) zum Osterfest mit faszinierender Vokalmusik, diesseits der Renaissance und des Barock. [sal: @@@@]
<http://www.eriksesenvalds.com/>
@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight