#473 vom 20.02.2006
Rubrik Kolumne
Sal's Prog Corner #52
Die Progressive Rock-Szene präsentiert sich 2006 facettenreich und international wie nie zuvor. Diese Ausgabe der Prog Corner trägt dem Rechnung und stellt neuen Alben aus Belgien, Großbritannien, Israel, Schweden und den USA vor.
Außerdem erinnert sie an den Canterbury-Veteranen und Saxophonisten Elton Dean von The Soft Machine, der gerade mit den wiederformierten Soft Machine Legacy auf die Bühne zurückgekehrt war. Am 8.2.2006 verstarb Dean im Alter von 61 Jahren an Herzversagen. Seine Pionierarbeit für das Genre abseits des Mainstreams bleibt unvergessen. Farewell Elton.
Wie immer gilt auch heute: Viel Spaß beim Lesen & keep on proggin'. [sal]
<#473: Soft Machine "Out-Bloody-Rageous"> [sal:Â @@@@@]
Cerebus Effect "Acts Of Deception"
Progmetal – Sehr interessantes Debüt
(CD; Cerebus Effect)
"Over-underproduced by Cerebus Effect" steht auf dem Longplayer-Debüt der US-amerikanischen Formation Cerebus Effect. Und in der Tat: Der Sound und die Produktion des Quartetts aus Baltimore klingen noch ein bisschen ungeschliffen und unausgereift. Ihre Mischung aus klassischen Progressive-Rock-Elementen, Jazz und vor allem modernen Metal-lastigen Ansätzen lässt allerdings aufhorchen. Die treibenden Soloduelle zwischen variantenreichen, aufgekratzten E-Gitarrenläufen und abgehackten E-Piano-Parts klingen aufregend anders; die nervöse Grundsubstanz der Kompositionen wird durch gelegentlichen, kratzigen Gesang noch unterstrichen. Dies ist wahrlich kein Album für stupide Headbanger, denn die Musik birgt geistige Artverwandtschaft zu avantgardistischen Bands wie Magma, Guapo und Sleepytime Gorilla Museum, nicht aber Mainstream-Prog-Metal-Acts wie Dream Theater und Fates Warning.
Wer mit Abstrichen beim Sound leben kann, der sollte dieser intelligent aufspielenden, äußerst modern klingenden Metal-Band unbedingt eine Chance geben. [sal: @@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
<#507: Deluge Grander "August In The Urals"> [sal:Â @@@@]
The Tangent "A Place In The Queue"
Progressive Rock – Totgesagte leben länger
(CD, 2CD; InsideOut)
Totgesagte leben länger! Beim Vorgängeralbum "The World That We Drive Through" hatte ich ehrlich gesagt den Eindruck, dass sich der Überraschungseffekt des augenzwinkernd rückblickenden Debüts "The Music That Died Alone" rasend schnell abgenutzt hat. Das Starensemble um die Doppelspitze Roine Stolt (The Flower Kings) und Andy Tillison (Parallel Or 90 Degrees) klang beim zweiten Album ein wenig berechnend, technisch perfekt, aber auf Dauer schrecklich langweilig.
Stolt hat die Band mittlerweile verlassen, um sich mehr seiner Hauptband und seiner unlängst erschienenen Solo-Scheibe zu widmen. Tillison hat neue Bandmitglieder rekrutiert, ironischerweise wieder aus dem direkten Flower-Kings-Umfeld. Diese fügen sich homogen, vielleicht sogar homogener als ihre Vorgänger in das Bandkonzept ein. So ist es vielleicht kein Wunder, dass The Tangent mit "A Place In The Queue" zwar ein drittes Album mehr oder minder der selben Machart vorlegen, dass dies allerdings die stärkste der drei Tangent-Scheiben ist. Vielleicht ist es ja so, weil nun die charmant-ironischen Kompositionen, nicht aber die großen Namen im Vordergrund stehen.
Das Rad werden The Tangent gewiss nicht neu erfinden. Sie bleiben eine stark retro-gewandte Band, doch bei "A Place In The Queue" könnte die Halbwertszeit deutlich höher liegen, als beim Vorgängeralbum und bei vielen anderen Projekten dieser Art.
Das Album erscheint auch als Special Edition mit Bonus Disc, auf der sechs Tracks der Queue-Sessions zu hören sind, die nicht in das Konzept, wohl aber zum hohen Qualitätsstandard der neuen, wiedergeborenen Tangent passen. [sal: @@@@]
<#361: The Tangent "The Music That Died Alone"> [sal:Â @@@@]
<#405: The Flower Kings "Adam & Eve"> [sal:Â @@]
<#463: Roine Stolt "Wall Street Voodoo"> [sal:Â @@]
<http://www.thetangent.org/>
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Izz "My River Flows"
Die Kronprinzen des Progressive Rock
(CD; Doone)
Die siebenköpfige New Yorker Formation Izz gelten seit ihrem sensationellen zweiten Album "I Move" als so etwas wie die heimlichen Kronprinzen des Genres. Folgerichtig erwartete sich die Szene große Dinge vom nun erschienenen Album "My River Flows" und, um es kurz zu machen, sie haben sich offenbar bewusst geweigert die angebotene Krone anzunehmen und den erwarteten Meilenstein aufzunehmen.
Auf "My River Flows" setzen sie weder ihren experimentellen, verspielten Stil von "I Move" fort, noch driften sie weiter in den breiten Mainstream à la Spock's Beard ab, mit denen sie gerne verglichen werden. Stattdessen ist "My River Flows" ein seltsam inhomogenes und doch kohärentes Album geworden, voll musikalischer Wendungen, stilistischer Wirrungen, zusammengewürfelt aus unterschiedlichsten Einflüssen. Dem vielbeschworenen Konzept-Album aus einem Guss stellen sie auf ihrer dritten Studioproduktion ein Patchwork aus vielen kleinen Elementen entgegen, die wie auf einer Perlschnur aneinandergereiht werden. Gerade die epischeren Songs wirken so ein wenig wie ungeschliffene Rohdiamanten, deren eigentliche Schönheit nur deswegen zum Vorschein kommt, weil sie nicht unendlich bearbeitet wurden. "My River Flows" ist ein mutiger Schritt aus dem Korsett zu großer Erwartungen an die talentiertesten Newcomer der Szene. [sal: @@@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Ritual "Live"
FolkRock/ProgRock – Stimmungsvolles Live-Dokument
(2CD; InsideOut)
Dass Ritual zurecht als eine der unterhaltsamsten und mitreißendsten Bands im Genre gelten, belegen die vier Schweden eindrucksvoll auf ihrer nun erschienenen, schlicht "Live" betitelten Doppel-CD.
"Live" bietet rund 2/3 des gesamten musikalischen Schaffens des Quartetts und ist somit quasi ein Best-of-Album; ich würde sogar so weit gehen, dass man sich die Studio-Alben der Band sparen kann, wenn man "Live" dafür im Schrank stehen hat. In den fast zwei Stunden Spielzeit brennen Ritual ein lichterlohes Feuerwerk an Musikalität und Spielfreude ab, das dank exquisiter digitaler Übertragung besonders lebendig klingt. Hier hat man sich offenbar Mühe gegeben, den Live-Charakter der Band korrekt auf Silber zu bannen.
"Live" ist eine wirklich lohnenswerte Doppel-CD für Prog-Fans, die ebenso ein Faible für mitreißenden Hardrock à la Led Zeppelin haben und eine nachdrückliche Empfehlung für das hoffentlich bald anstehende nächste Ritual-Konzert. [sal: @@@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Sympozion "Kundabuffer"
Prog/Fusion – Hochinteressantes Debüt aus Israel
(CD; Thousand)
Israel mausert sich mit Bands wie Ahvak und Solstice Coil zu einem der Zentren der im wahrsten Sinne des Wortes progressiven Rockmusik. Hier, abseits der Mainstream-Hochburgen USA, Schweden, England und Deutschland mitsamt ihrer mächtigen Labels, reift eine spielfreudige, innovative und experimentierfreudige Szene, die sich an keine Regeln zu halten scheint, die bewusst mit Traditionen bricht und die durch exzellente Musiker besticht.
Das Quintett Sympozion steht wie derzeit keine andere israelische Band für diese neue Strömung in der dortigen Szene. Sie vermeiden alte Klischees ebenso konsequent wie verkrampft Avantgardistisches. Das Ergebnis "Kundabuffer" ist ein Album interessanter und vor Spielfreude überschäumender, wenn auch filigraner Instrumentalmusik (lediglich zwei Tracks kommen mit Vocals daher), der ich, wenn überhaupt, gewisse Referenzen an die Virtuosität der 1970er-Prog-Helden Gentle Giant zubilligen würde. Nebenbei bemerkt ist "Kundabuffer" ein geradezu fantastisch klingendes Album, das quasi alle modernen Hochglanz-Studioproduktionen der Genre-Größen locker hinter sich lässt. Die Vielschichtigkeit der Kompositionen wird so bestmöglich dargestellt. Ein heißer Anwärter auf den Titel 'Debüt des Jahres'. [sal: @@@@]
Univers Zéro "Live"
Avantgarde – Ultimatives Live-Dokument
(CD; Cuneiform)
Schrieb ich noch zu ihrem letzten Studio-Output "Implosion", dass das Sextett Univers Zéro um den Drummer und Komponisten Daniel Denis keine Rockband im eigentlichen Sinne sei, so muss ich nun mein Urteil revidieren. Auf ihrem nun erschienenen Live-Album rocken die Belgier eine sehr eigene, seltsame Mischung aus Kammermusik, Avantgarde-Rock, Jazz und hypnotischer Polyrhythmik. Live agiert das Ensemble deutlich wärmer und satter im Klang als auf den stets etwas misantropen Studioproduktionen und kann, nicht zuletzt durch einige neue Arrangements, das Maximum aus den komplexen Kompositionen und Partituren herausholen.
"Live" ist mit seinen mitreißenden 66 Minuten musikalischer Perfektion ein Meilenstein in der Diskographie der Band und ein idealer Einstieg in die komplexe Klangwelt der belgischen Formation. Univers Zéro haben sich 30 Jahre Zeit gelassen, um ihr erstes Live-Album zu veröffentlichen und wenn ich an die vielen mediokren Live-Alben im Progressive-Rock-Bereich denke, dann bin ich fast versucht zu sagen, dass sich das Warten gelohnt hat. Weitere 30 Jahre möchte ich auf solch eine Perle nicht mehr warten müssen. [sal: @@@@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
<#595: Univers Zéro "Univers Zéro"> [sal: @@@@@]
<#520: Franck Balestracci "Modified Reality"> [sal:Â @@@@]
<#483: MMCircle "Sibylle"> [sal:Â @@@@]
Soft Machine "Out-Bloody-Rageous"
Canterbury – Anthologie ihrer besten Jahre 1967-1973
(2CD; Sony)
Einige hörenswerte Raritäten und praktisch alle relevanten Tracks der ersten und zweiten Phase des Künstlerkollektivs Soft Machine sind auf "Out-Bloody-Rageous" versammelt. Die kluge Zusammenstellung und die gute Soundqualität machen aus dem Doppel-Album die bestmögliche Einstiegscheibe, trotz unzähliger Konkurrenten im Live- und Best-of-Sampler-Bereich.
Sowohl die psychedelische ArtPop-Phase dieser eminent wichtigen Band (mit den Alben "Volume 1" und vor allem "Volume 2") mit ihren kurzen, skurrilen Song- und Klangcollagen, als auch die epische und stellenweise sehr jazzige Improvisationsphase (im Zentrum steht das Meilensteinalbum "Third") werden exemplarisch abgehandelt. Auf die Spätphase der Band nach 1973, in der sie nur noch austauschbaren Fusion spielten, wird glücklicherweise verzichtet, so dass man erfreut konstatieren kann, dass dieses Album alle wichtigen Inkarnationen und musikalische Phasen der Band abdeckt. Nur der Fan wird mehr von Soft Machine brauchen. [sal: @@@@@]
<#459: The Soft Machine Legacy "Live in Zaandam"> [sal:Â @@@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight