#649 vom 26.10.2009
Rubrik Neu erschienen
Bill Evans with Dave Weckl, Mark Egan & WDR Big Band "Vans Joint"
Bill Evans, der weltweit beste Jazz-Saxophonist, im Gespräch
(CD, LP; BHM)
Er ist derzeit der wohl beste Saxophonist auf diesem Planeten: Bill Evans. Derlei Superlative aber ist er gewohnt: Als Mitglied der Miles Davis Band, im formidablen Gil Evans Orchestra oder als Grammy-dekorierter Solist, stets hat er Stilgrenzen überschritten. Von HipHop über Funk und Soul zu Bluegrass. Sein aktuelles Album "Vans Joint" featuret die 20-köpfige WDR Big Band mit Dave Weckl an den Drums, Mark Egan am Bass, Paul Shigihara an der E-Gitarre und Frank Chastenier an den Keyboards. »Die beste Big Band der Welt!« jubelt Bill Evans. Der Schallplattenmann fragt kritisch nach.
Volker Wilde: Auf den meisten Fotos sehen Sie aus wie ein muskelbepackter Schwarzenegger am Saxophon. Alles Steroide oder wie halten Sie sich fit?
Bill Evans: (lacht) Sport mache ich seit meinen Kindertagen. Ich denke schon gar nicht mehr darüber nach. Täglich ein Mix aus Schwimmen und Stretching, das bringt's. Wenn ich unterwegs bin, ist das schwieriger durchzuhalten. Aber ich bemühe mich. Denn ich spiele besser, wenn ich körperlich in Topform bin. Macht Sinn, oder?
Die Live-Aufnahme mit der WDR Big Band ist klasse. Ein einziger Song von Ihnen fehlt, das großartige "Let The Juice Loose", das Sie Ende der 1980er mit dem Gil Evans Orchestra gespielt haben. Das Album beginnt direkt mit Ihrem Grammy-dekorierten "Soulgrass". Wie hat die europäisch-amerikanische Band funktioniert? Alles harmonisch?
Bill Evans: Arrrg, Sie haben recht! "Let The Juice Loose" wäre ein cooler Song gewesen, den der Arrangeur Mike Abene auch hätte machen können. Die WDR Big Band – harmonisch? Volker, gleich am ersten Tag, als ich diese Band hörte, war ich hin und weg. Die Jungs sind genial, vielleicht die beste Big Band der Welt. Jeder Einzelne ist auch ein hinreißender Solist. Und Mike Abene hat einen Riesenjob gemacht.
Den Big-Band-Sound liebe ich, seit ich ein achtjähriger Knirps war. Mein Vater spielte zuhause damals pausenlos Platten von Benny Goodman und Stan Kenton. Und diesen frischen Sound der WDR Big Band jetzt auf einem eigenen Album zu haben, das macht mich glücklich.
Da gibt es eine andere Jazzgröße, die denselben Namen trägt wie Sie, der Pianist Bill Evans. Welche Geschichte wollen Sie mir zu dieser Namensgleichheit erzählen?
Bill Evans: Eine bemerkenswerte. Als ich das erste Mal in einen Plattenladen ging, war ich elf Jahre alt. Mein Vater, der auch Bill Evans heißt, sagte »Schau mal, da gibt es einen Pianisten, der so heißt wie wir. Wenn du später mal Platten aufnehmen solltest, wird das hier im Laden für Verwirrung sorgen.« Er machte nur einen Witz, da ich zu der Zeit gerade erst ein paar Male in ein Saxophon gepustet hatte. Und? Heute ist es in CD-Shops verwirrend für die Angestellten! Mein Vater sollte recht behalten. (lacht)
John McLaughlin, Billy Cobham, Al di Meola, Chick Corea und viele andere Top Acts scheinen seit Jahren uninspiriert. Kann es sein, dass die Virtuosen, anders als früher, die Gesellschaft heute nicht mehr verstehen, darum auch nicht mehr relevant musizieren und bloß immer wieder versuchen, die alten Geister mit ausgelatschten Zaubersprüchen heraufzubeschwören?
Bill Evans: Gute Frage. Ich kann für meine Kollegen nicht sprechen. Und ich habe tatsächlich auch die gegenteilige Meinung gehört. Ich hoffe für mich, dass ich immer offen bin für Einflüsse von außen und nicht verschlossen werde und mich schnöde wiederhole. Ich will einfach immer weiter nach vorne. Manchmal denke ich, dass es bei mir daran liegt, dass ich nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne habe, bin mir da aber nicht sicher. Risiken gehe ich in der Musik immer gerne ein. Ein Beispiel? Gestern Abend habe ich ein Konzert gegeben, mit meinem Soulgrass Acoustic Quartet. Banjo, Fiddle, Akustik-Gitarre und mein Saxophon. Ich hatte keine Ahnung, wie das klingen würde und noch weniger, was die Zuhörer davon halten würden. Für meine Fans war das jedenfalls nicht der typische Bill Evans, den sie erwarteten. Dies Risiko gehen, glaube ich, nicht viele im Jazz ein. Ich bin von Natur aus einer von denen, die eben eher das Risiko eingehen.
Keith Jarrett hat neulich gesagt, dass ihm das Klavier nach all den Jahren nicht mehr die Möglichkeit gibt, seine Gefühle voll auszudrücken. Was denken Sie, nach all den Jahren über Ihr Saxophon?
Bill Evans: Keith hat einfach recht. Kein einziges Instrument kann uns alles geben, um uns voll ausdrücken zu können. Ich habe das, anders als Keith, schon vor langer Zeit gespürt. Meine Lösung? Ich habe angefangen zu singen.
Erinnern Sie sich eigentlich noch an den Tag, als Sie das erste Mal ein Saxophon um den Hals hängen hatten? Ist es wirklich der Kern Ihres Musikerdaseins?
Bill Evans: Überraschung, es ist das Klavier! Auf dem Klavier habe ich angefangen. Spiele ich heute noch gern. Auf dem Klavier komponiere ich auch. Mit sechs Jahren habe ich Klavier angefangen, mit elf dann mit dem Saxophon. Als ich das erste Mal dieses Saxophon im Koffer habe liegen sehen, hat es mich umgehauen. Ich weiß heute noch, wie es roch, wie es glitzerte und wie schwer es war. Nichts war danach wie zuvor. Jeden Tag spielte ich stundenlang. Keiner gab mir Unterricht oder sagte, ich müsste üben. Das Saxophon war in mir. Es übernahm die Kontrolle über mich, über meine kleine Welt... Heute ist es eine Hassliebe, aber ich will nicht meckern! Es hat mir alles gegeben, was ich besitze. Schon witzig. Luft durch ein Metallrohr zu blasen, hat mir ermöglicht, die ganze Welt zu bereisen. Klingt irre. Stimmt einfach.
Vor einigen Jahren trank ich einige Kölsch mit Miles Evans, Gil Evans' Sohn, der Miles Davis als liebevolles Familienmitglied beschrieb. Dave Liebman erzählte mir später beim Wein, dass Miles Davis schon an der Haltung eines Musikers zu erkennen meinte, ob der es drauf hat. Hat Miles Davis Sie auch begutachtet, bevor er Sie in seine Band aufnahm?
Bill Evans: Aha, die Miles-Davis-Frage, ich wusste, Sie würden sie stellen! (grinst) Es war doch etwas anders: Meist nahm Miles Leute in die Band auf, die er von festen Mitgliedern empfohlen bekam. Dave Liebman empfahl mich. Und ich empfahl dann John Scofield, Mike Stern und Marcus Miller. So lief das. Miles sagte zu mir: »So lange du mir weiter so großartige Musiker bringst, frage ich immer nur dich!« Miles und ich, wir waren sehr vertraut miteinander. Die meisten in der Band waren das nicht. Für mich war es ein Glück, ihn kennengelernt zu haben. Weißt du, wir verbrachten ein ganzes Jahr zusammen, bevor wir überhaupt unser erstes Konzert zusammen spielten. Und zu dem Zeitpunkt waren wir längst enge Freunde. Miles ist unvergesslich. Ich vermisse seinen unschlagbaren Humor.
Hat die Finanzkrise auch Auswirkungen auf einen Weltklasse-Musiker wie Sie es sind?
Bill Evans: Sicher. Das ist ganz simpel: Weniger Festivals und weniger Clubs können sich die Musiker leisten, die sie gern hätten. Und das Publikum geht in dieser Krisenzeit weniger aus. Wenn du dich entscheiden musst zwischen einem Einkaufswagen voller Lebensmittel und einem Abend mit Live-Musik, steht das Essen an erster Stelle. Aber generell sehe ich, habe ich großes Glück: Mein Publikum wächst.
"Vans Joint" ist jetzt erschienen. Ich weiß, dass Sie schon andere Pläne im Kopf haben. Nur, welche?
Bill Evans: (lacht) Ich denke daran, weiter in diese orchestrale Richtung zu gehen, vielleicht tatsächlich mit klassischen Instrumenten? Wenn ich an die Möglichkeiten denke, wow, bin ich direkt inspiriert... Aber hey, ich bin froh, hier zu sein, versuche jeden Moment bewusst zu leben. Und danke dir für das Interview, Volker. Weißt du, nur während solcher Interviews denke ich über das nach, was ich eigentlich als Musiker so treibe. Für den Rest des Jahres denke ich nicht, da spiele ich einfach.
Bill, ich danke Ihnen für dieses Gespräch. [vw: @@@@]
<#432: Bill Evans & Randy Brecker "Soul Bop Band Live"> [vw:Â @@]
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