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[ << | Inhalt | >> ]Ausgabe #201 vom 12.06.2000
Rubrik Live - Musik spüren

Michelle Shocked, 12.4.2000, Wien

Swing is a loosener and a joy, oder: Some things are better left unsaid

Im Chelsea in Wien, 1.30 Uhr: Eine kleine, schmächtige Frau steht im lautesten Teil des Lokals und bestellt zwei große Guinness. Endlich. Der Weg war weit, der Tag anstrengend. Zunächst L.A.-Wien, FM4-Studio, Szene Wien, kurz ins Hotel und dann noch wir. Aber: Sie haben es so gewollt. Sie: Michelle Shocked und Ehemann Bart Bull, Journalist, Schriftsteller und ehemals Herausgeber von "Spin". Seit zehn Jahren ein Pärchen, seit acht Jahren verheiratet, leben sie zur Hälfte in Los Angeles und in New Orleans. Sie sind, so gut es geht, keinen Tag getrennt, und falls doch, sind sie beide schwer verstört darüber. "Ich habe meinen Mann getroffen," sagt Michelle später beim Interview, "und er hat mich geliebt, bevor ich mich selbst geliebt habe." Beide mögen Wien, egal ob gerade eine "right-wing"-Regierung am Ruder ist, oder nicht, die Stadt verändert sich nicht. "Look at that glass of beer," erklärt Michelle Shocked, "das Glas ist immer gut, nur der Inhalt ändert sich." Das Glas. Quasi Zentrum des Gesprächs. Taucht immer wieder auf. Der Inhalt verschwindet. Langsam aber sicher. Aber immer der Reihe nach.
Szene Wien: Das Haus war voll, also gut besucht, die Stimmung bestens. Michelle Shocked 2000 ähnelt zu Beginn dem Konzert von 1996 im Metropol. Klare Instrumentierung. Michelle Shocked an der weißen Fender, begleitet von Fiachna O'Brian (Hothouse Flowers): "Memories Of East Texas" – ihr, wie sie später ohne Zögern antwortet, autobiographischster Song. In der ersten Reihe hält jemand ein Taferl hoch: "Let's jam together as we did in 1996." Erinnerungen eines durchschnittlichen Mitteleuropäers. Michelle Shocked lächelt und bittet allerdings nicht ihn, sondern ihre neuformierte Gruppe auf die Bühne: "The Mood Swingers". Von wegen Statik. Michelle Shocked ist immer für (angenehme) Ãœberraschungen gut. Mit solchen Wechselbädern der Gefühle rechnet aber wohl kaum jemand. "Up.. and... down... up... and... down...," wie sie on stage das Publikum vorzubereiten versuchte: Reggae wechselte mit Cuba-Groove, wechselte mit Garagen-Rock, wechselte mit 70's Soul, wechselte mit Gospel, wechselte mit Punk, wechselte mit... ach, so vielem. Neue Songs, die sie im Herbst studiomäßig verarbeiten werden. "Was fehlt," sagte sie abschließend im Chelsea, "ist eine Plattenfirma." Michelle Shocked & The Mood Swingers, das bedeutet erstmals ein Bandgefüge, in dem sie nicht ausschließlich im Mittelpunkt steht. Den Gesangspart übernehmen auch abwechselnd die anderen. Der Höhepunkt des Konzerts jedoch ist eine Instrumentalnummer, bei der sich die Tin-Whistle und die gedämpfte Trompete ein Duell liefern, dahinter rumpelte es bluesmäßig elektrifizierend. Nach energiegeladenen drei Stunden war Schluss, und der begeisterte Applaus allemal verdient.

Schallplattenmann: Uns überraschte, dass du im Gegensatz zu den Konzerten in den letzten Jahren, fast ausschließlich neue, unbekannte Songs präsentiertest.
Michelle Shocked: Ich mache gerne neue Dinge. Das gibt mir das Gefühl, dass ich dabei wachse und wachse. In fünf Jahren werde ich meine "richtige Größe" erreicht haben. In fünf Jahren bin ich dann durch genug Stile gegangen, ich habe das Gefühl, dass ich dann an jenem Punkt bin, wo ich hinwill, aber den ich jetzt noch nicht kenne.

Schallplattenmann: Man hat dir oft vorgeworfen, dass du zwischen den Musikstilen herumspringst, als welche Art Musikerin begreifst du dich?
Michelle Shocked: Amerkanische Musiker haben den Vorteil, sehr viel Ursprungsmaterial an der Hand zu haben: Afro, Country, Reggae, Blues, Folk... Jeder einzelne dieser Stile ist eine Farbe, und ich bin die Malerin, die mit all diesen Farben experimentiert und versucht daraus ein Bild zu machen.

Schallplattenmann: Michelle, wenn du ein Lied schreibst/komponierst, weißt Du da auch gleich, wie Du es arrangiert haben möchtest?
Michelle Shocked: Beim kreativen Akt des Schreibens, manchmal sind zuerst die Texte da, manchmal die Melodie, manchmal beides gemeinsam, entsteht auch die vage Idee des Arrangements. Aber, you know, it's a song, der wächst, wachsen kann oder auch nicht.

Schallplattenmann: Du scheinst ein sehr positiv eingestellter Mensch zu sein. Auch heute abend hast Du ein neues Lied vorgestellt, in dem es im Refrain heißt "Life is beautiful". Aus den Nachrichten erfährt man allerdings ganz was anderes.
Michelle Shocked: Aber das Leben ist doch schön!...kann so schön sein. Schau Dir dieses Glas an. Das Glas ist immer gleich. Der Inhalt wechselt, manchmal ist es halb voll, manchmal halb leer, voll oder leer, aber das Glas, die Hülle ist immer gleich, immer gut.

Schallplattenmann: Wenn aber das Glas, die Hülle also, schlecht ist?
Michelle Shocked: Niemals! Das Glas ist immer gut. Vor allem, wenn man Durst hat...[lacht, dann wieder ernst]... Ich habe eine erstaunliche Gnade in Gott gefunden.

Schallplattenmann: Du hast diesen wunderbaren Song geschrieben, "Quality Of Mercy" zum Film "Dead Man Walking", einer der wenigen so-called-Protest-Songs der 90er Jahre, ähnlich wie "Faye Tucker" der Indigo Girls. Glaubst Du, dass Lieder das Bewusstsein beeinflussen können?
Michelle Shocked: "Quality Of Mercy" ist kein Protest-Song. Ich schreibe keine Protest-Songs wie früher Bob Dylan [steht auf und singt], "How many years can some people exist/Before they're allowed to be free?". Ich aber singe: "The Quality of Mercy ist my strain...". Das ist Hoffnung, nicht Protest.

Schallplattenmann: Das klingt, als ob du dich von Protest-Songs distanzierst?
Michelle Shocked: Manche aus der politisch linken Ecke sagen, die Schwarzen sollten lieber Protestlieder singen als Gospels. Aber die Gospeltradition ist der Wahrheit näher als die Protestmusik. Die Gospelmusik drückt nicht Protest und Auflehnung aus, sondern Vertrauen. Und das ist wunderbar. Ich liebe Gospelmusik.

Schallplattenmann: Welche Musik hörst du gerne privat?
Michelle Shocked: Alles, was mein Mann hört...[lacht]...also von The Clash bis zu Paul Simon...
Bart Bull: Michelle's Zugang ist ein anderer. Wenn wir zu Hause Musik hören wollen, dann suchen wir nicht irgendwelche Platten raus, sondern Michelle greift zur Gitarre und macht Musik.

Schallplattenmann: Aber Platten kaufst du schon?
Michelle Shocked: Selten. Die erste mit 22 Jahren, Paul Simons "Hearts and Bones". Die gefällt mir heute noch.

Schallplattenmann: Du warst also schon immer autonom in deinem künstlerischen Selbstverständnis?
Michelle Shocked: Ich wollte nie Künstlerin werden. Ich hatte eine schlechte Meinung über Künstler. Ich habe einfach Musik gemacht und mich als politische Aktivistin verstanden, aber nicht als Künstlerin. Schön langsam aber habe ich es akzeptiert.

Schallplattenmann: Beim Konzert erwähntest du, dass die neuen Lieder im Herbst im Studio aufgenommen werden. Hast du vor mit der kommenden Platte erneut independent zu bleiben oder suchst du wieder ein Major-Label?
Michelle Shocked: Ein Major-Label, auf alle Fälle.

(Das Gespräch führten Patricia Brooks und Manfred Horak) [mh]


Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:


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