#568 vom 28.01.2008
Rubrik Kolumne
Sal's Prog Corner #69
Das neue Jahr beginnt mit dem alten. Wie bitte? Ja ja, stimmt schon, zumindest in der Prog Corner arbeiten wir in der heutigen Ausgabe (mit einer Ausnahme) Veröffentlichungen auf, die Ende des vergangenen Jahres erschienen sind oder die erst jetzt im deutschen Vertrieb erhältlich sind. Sei's drum: Was sind ein paar Wochen Verzögerung schon im kosmischen Vergleich?
Bevor meine esoterisch-philosophischen Betrachtungen noch wirrer werden, überlasse ich euch lieber meiner heutigen Auswahl. Wie immer wünsche ich viel Spaß beim Lesen und Entdecken: Keep on proggin'. [sal]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Prisma "Collusion"
NuProg – Schweizer Wertarbeit an der Schnittstelle zu Alternative und Progressive Metal
(CD; Galileo)
Unüberhörbar an der Schnittstelle zwischen Progressive Metal und Alternative Rock, also jenem Sound, den Tool popularisiert haben, rocken die vier Züricher durch die zwölf Stücke ihres selbstproduzierten Erstlings "Collusion". Dabei besticht das Quartett vor allem durch guten Gesang, eine präzise Rhythmus-Sektion und riffbetonten Gitarrensound. Und genau hier ist der Knackpunkt des Albums: Wie man es wohl von einer Schweizer Band nicht anders erwarten würde, überzeugen Prisma auf dem Album vor allem durch handwerkliche Fähigkeiten, in Sachen Individualität und Songwriting ist sicher nach oben hin noch etwas Luft. Der Truppe würde man manchmal etwas mehr Eigenständigkeit gegenüber dem großen Vorbild Tool wünschen. Ob beabsichtigt oder nicht: Auf Dauer ist mir das Album zu nahe am Original; nichtsdestoweniger ist Prisma für Tool-Fans mit Sicherheit ein heißer Tipp.
Prisma gelten in der Szene als exzellente Live-Band. Wer sich davon überzeugen möchte, hat im Frühjahr Gelegenheit dazu: 19.4.2008 Oberwolfach, 20.4. Köln, 21.4. Stuttgart, 22.4. Aschaffenburg, 23.4. Lorsch. [sal: @@]
Ayreon "01011001"
ProgRock/ProgMetal/Melodic Rock – Sci-Fi-Operette mit Ãœberlänge
(2CD, 2CD+DVD; InsideOut)
Bisher habe ich mir immer mit viel Sympathie die Ayreon-Prog-Oper(ette)n angehört, wenn ich mich auch davor gehütet habe, sie wirklich ernst zu nehmen. Ayreon waren für mich stets die Befriedigung der niederen Triebe des gemeinen Prog-Fans: Gefrickel, Keyboards, symphonische Balladen, starke Kerle, liebliche Frauen, Pathos, Soli, Breaks, Taktwechsel und dann wieder Soli, Soli, Soli; das alles verpackt in einer 'tollen' Konzeptalbum-Story und natürlich mit zig namhaften Gästen, damit auch wirklich für jeden etwas dabei ist. Das Rezept ging ja bis dato auch (fast) immer auf, doch auf dem neuesten Ayreon-Doppel-Album (klar! Doppelt! Was sonst?) "01011001" höre ich ein über weite Strecken uninspririertes Aneinanderreihen von lärmenden, kitschigen, schwülstigen Versatzstücken, die mit kaum zu ertragendem Bombast zugekleistert wurden. Unterm Strich bedeutet das einen deutlichen Qualitätsverlust gegenüber dem Vorgänger "The Human Equation" (2004). Die zwei halbwegs erträglichen Stücke zu Beginn der zweiten CD reißen die Kohlen auch nicht aus dem Feuer: Das Album ist schlichtweg überproduziert, stellenweise geradezu größenwahnsinnig und darüberhinaus schlichtweg hektisch. [sal: @]
<#397: Ayreon "The Human Equation"> [sal:Â @@@@]
<http://www.ayreon.com/>
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
<#606: Ayreon "Timeline"> [sal]
<#587: Jupiter Society "First Contact // Last Warning"> [sal:Â @@@@]
Time Of Orchids "Namesake Caution"
Progressive Rock/Avantgarde – Harmonische Dissonanz
(CD; Cuneiform)
Was kommt heraus, wenn man die Beach Boys mit Yes in ihrer Hochphase und den brachialsten Momenten der 1970er King Crimson kreuzt? Vielleicht klänge das Ergebnis in seinen besten und inspiriertesten Momenten so wie das neue, mittlerweile fünfte Album "Namesake Caution" des US-amerikanischen Avantgarde-Quartetts Time Of Orchids. Ich habe selten ein Album gehört, das auf so kompromisslose Art und Weise Harmonie und Dissonanz, Wohlklang und Lärm, Aggressivität und Zurückhaltung miteinander verknüpft. Hört man das Album, so weiß man nie genau, was wohl als nächstes kommt und versucht man es zu erraten, so liegt man meistens daneben. "Namesake Caution" ist schlichtweg ein unberechenbares Album, dass man entweder aufmerksam und mit einem gewissen Entdeckergeist hört oder das man entnervt nach wenigen Minuten aus dem CD-Player verbannt – eine andere Reaktion ist kaum denkbar.
Nein, dies ist gewiss kein Album für jedermann und auch kein Album, das man immer hören kann aber es ist definitiv eine der spannendsten musikalischen Umsetzungen von Widersprüchlichkeiten, die ich jemals gehört habe. Love it or leave it... [sal: @@@@]
<#515: Yes "Yes Acoustic"> [sal:Â @]
<#376: King Crimson "Eyes Wide Open"> [sal:Â @@@@@]
<http://www.timeoforchids.com/>
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Delta Saxophone Quartet "Dedicated To You... But You Weren't Listening"
Progressive Rock/Avantgarde/Jazz – Ein besonderes Tribute-Album
(CD; Moonjune)
Ich halte die meisten Tribute-Alben für (gelinde gesagt) überflüssig. Entweder sie können den Originalen nicht das Wasser reichen oder sie enden als blasse, blutleere Kopien, überflüssig, wenn man doch das Original haben kann. So sind viele Tribute-Alben eher eine Vergangenheitsbewältigung der musikalischen Präferenzen der beteiligten Musiker. Dieses Tribute-Album ist anders, ganz anders.
Das britische Delta Saxophone Quartet reproduziert auf "Dedicated To You... But You Weren't Listening" nicht den Canterbury-Sound der legendären Formation Soft Machine, die vier Musiker arbeiten ihn von Grund auf neu auf, übersetzen ihn in eine eigene Klangsprache des DSQ. Das Ergebnis ist gleichermaßen vertraut wie radikal neu und präsentiert Klassiker aus dem Soft-Machine-Repertoire in einem ganz neuen Licht, in einer Deutung, die die Originalmusiker weder seinerzeit und noch viel weniger jetzt (als Soft Machine Legacy) hätten produzieren können. Durch die transparenten Arrangements des DSQ eröffnen sich ganz neue Details der Kompositionen.
Ob man mit diesem Album allerdings wirklich neue Hörer für Soft Machine gewinnen kann, bleibt fraglich. Das Delta Saxophone Quartet aber hat sich mit diesem Album besser als je zuvor in Szene gesetzt. [sal: @@@@]
<#555: Soft Machine Legacy "Steam"> [sal:Â @@]
<http://www.musicontheedge.com/delta.html>
<http://www.moonjune.com/>
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Accordo Dei Contrari "Kinesis"
Progressive Rock – Neue hoffnungsvolle Band aus Italien
(CD; Altrock)
Italien war in den 1970er Jahren ein Zentrum des europäischen Progressive Rock: Bands wie PFM, Banco, Le Orme und Area waren über die Grenzen des Stiefels populär, doch die Szene versank, wie der Rest der ersten Prog-Generation, im kommerziellen Sumpf. Erst in den Neunzigern formierte sich in Italien eine neue Szene; diese klang allerdings dezidiert anders, nicht poetisch und symphonisch, sondern komplex, verspielt und mit unüberhörbaren Anleihen beim Jazz, der zeitgenössischen klassischen Musik und den Avantgarde-Rockbands aus Frankreich, Belgien und den USA (Stichwort: Rock in Opposition) mit Bands wie Deus Ex Machina oder D.F.A.
Die Formation Accordo Dei Contrari (zu Deutsch etwa "Einvernehmen der Gegensätze") aus Bologna ist eine der jüngsten und interessantesten Kinder dieser Szene. Das vorliegenden Debüt-Album "Kinesis" haben sie in nur zwei Tagen live im Studio eingespielt. Es sprüht geradewegs von überschäumender Spielfreude und Kreativität und zitiert gekonnt sowohl die Hochphase des europäischen Progrocks der ersten Generation sowie Fusion-Elemente à la Return To Forever oder Mahavishnu Orchestra, jedoch dezidiert rockiger. Wer Freude an druckvoller, treibender und komplexer Instrumental-Musik ist, der sollte unbedingt in dieses Album hineinhören. [sal: @@@@]
<#561: D.F.A. "Kaleidoscope"> [sal:Â @@@@]
<http://www.altrock.it/>
<http://www.myspace.com/accordodeicontrari>
Ahleuchatistas "Even In The Midst..."
Avantgarde – Kompromisslose Avantgarde-Rock
(CD; Cuneiform)
Ahleuchatistas (gesprochen Ah-Lu-Tscha-Ti-Tas) ist eine US-amerikanische Avantgarde-Truppe aus North Carolina, die für kompromisslose Avantgarde steht. Ihre Alben sind ebenso wenig leicht zu verstehen, wie der Sinn hinter ihren Songtiteln, etwa "Take Me To Your Leader, Never Sounded So Alien" oder "Swimming Underwater With A Cat On Your Back". Derweil man bei den Titeln gewillt ist, sie als bloßen Nonsens abzutun, kann man ihre Musik beim besten Willen nicht als sinnlos abtun, nur weil man sie auf Anhieb nicht kapiert. Freilich: Man muss schon ein wenig Sympathie für Avantgarde-Musik und etwas Geduld mitbringen, um sich in den Sound der Ahleuchatistas hineinzuhören. Oder – und dies erscheint mir fast sinnvoller – man lässt sich einfach auf den Krach ein, den das Trio produziert und versucht erst gar nicht, alles zu verstehen oder jede technische Finesse intellektuell zu begreifen, frei nach dem Motto: »C'mon, feel the noise...« Manchmal nutzen Glam-Rock-Weisheiten tatsächlich auch bei praktischen Problemlösungen. [sal: @@@]
Sean Malone "Cortlandt"
Fusion/Jazz/Prog/Post-Rock – Fusion, Jazz, Prog, Post-Rock? Ja, genau! (1996)
(CD; Free Electric Sound)
Sean Malone gehört zu den besten Bassisten, die derzeit in der weitläufigen Prog-Szene aktiv sind. Seine ersten musikalischen Meriten erwarb er bei der Death-Metal-Band Cynic, in dessen Spätphase Malone mit seinem markanten Spiel eine proggige und jazzige Note hereinbrachte. Später sollte er diese Grundidee bei Bands wie Gordian Knot noch vertiefen. Zwischen der Cynic-Phase (bis 1993) und Gordian-Knot-Phase (ab 1999) entstand 1996 das Solo-Album "Cortlandt", auf dem Malone die Grenzen seiner musikalischen Interessen neu zu definieren scheint: Bach, Coltrane, Metheny und jede Menge Eigenkompositionen zwischen Jazz, Fusion, Progressive Rock sowie einigen Post-Rock-Anleihen bis hin zu Soundscapes. Nicht alles ist gleich überzeugend und gewiss hat das Album einige Schwächen, vor allem die garstigen Keyboard-Sounds, die Malone höchst persönlich völlig überflüssigerweise hineinprogrammierte. Aber trotz des suchenden Charakters einiger Stücke ist "Cortlandt" ein erfreuliches Album, nicht nur für Bass-Fans, denn gerade in der zweiten Hälfte des Albums verlässt Malone die fingerfertigen Pfade des typischen Bassisten-Solo-Albums und überzeugt durch abwechslungsreiche Kompositionen/Arrangements und noble Zurückhaltung. [sal: @@@]
@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight