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[ << | Inhalt | >> ]Ausgabe #78 vom 05.10.1997
Rubrik Live - Musik spüren

Bob Dylan, 4.8.1997, Lenox, Mass.

Setlist (* = akustisch):
1. Absolutely Sweet Marie
2. Señor (Tales Of Yankee Power)
3. Tough Mama
4. You Ain't Goin' Nowhere
5. Silvio
6. Roving Gambler *
7. Tangled Up In Blue *
8. Cocaine *
9. Seeing The Real You At Last
10. This Wheel's On Fire

11. Like A Rolling Stone
12. My Back Pages *
13. Rainy Day Women #12 & 35

Lenox, Mass. ist ein kleiner Ort, der nur schwer in einem Reiseführer und auf der Landkarte zu finden ist und der ohne Auto sehr umständlich zu erreichen ist. Der Auftrittsort selbst - "New Tanglewood - The Shed" genannt - ist an und für sich die Heimstätte des Bostoner Symphonie-Orchesters und hält im Sommer - der Wiener Staatsoper nicht unähnlich - die Bühne frei für U-Musik. Um dem Publikum Festival-Stimmung vorzugaukeln, wurden am 4. August 1997 neben Bob Dylan BR 5-49 (die mittels Zeitmaschine aus den 20er Jahren eingeflogen wurden) sowie die irrtümlich als talentiert geltende Ani DiFranco engagiert. Das "Kräftemessen" bekam dadurch einen eigentümlichen Glanz.
BR 5-49 meisterten zwar mit Bravour all ihre Hank-Williams-und-wir-kennen-noch-ältere-Songs, reproduzieren diese allerdings ohne Anspruch auf Eigenständigkeit. Ani DiFranco spielt ausschließlich Eigenmaterial. Sie bringt es auch bereits auf neun CDs, dürfte dabei jedoch so ziemlich alles auf CD pressen, was ihr einfällt. Ihre "Songs" sind kaum mehr als Fragmente, man weiß nie so recht, ob sie gerade die Gitarre stimmt oder mitten in einem Lied ist. Letztendlich können noch so viele hysterisch-kreischende Mädchen Ani DiFranco bejubelt haben, danach kam einer, der es besser kann.
Bob Dylan-Konzerte sind jedesmal aufs neue eine angenehme Überraschung - sie wirken spontan und auch unverzichtbare Momente fehlen nicht. So auch in Lenox. Die unverzichtbaren Momente waren: "Senor", "You Ain't Goin' Nowhere", "Tough Mama", der Akustik-Set (mit "Roving Gambler", "Tangled Up In Blue", sowie die erste Hälfte von "Cocaine"), "Like A Rolling Stone", "Rainy Day Women #12 & 35".
Im Gegensatz zu den 1996er-Konzerten scheint Dylan wieder drauf und dran zu sein, die Langsamkeit hinter sich zu lassen und seiner Stimme einen neuen Ausdruck zu verleihen. Er singt, als wollte er jedem die Bedeutung seiner Texte vermitteln, kraftvoll und mit scheinbar neuer Überzeugtheit seiner Metaphern. Gleichzeitig spielt er Lead-Gitarre und all jene, die ihn einst seiner fragmentarischen Bearbeitung der Gitarre wegen verhöhnten, werden 1997 eines besseren belehrt. Dylan kann es durchaus mit jedem Gitarristen aufnehmen.
Keine Zeit blieb, den vor Staunen offenen Mund wieder zu schließen, derart frisch, unverbraucht und überwältigend, ergreifend klangen "Senor", "You Ain't Goin' Nowhere", "Tangled Up In Blue" und "Like A Rolling Stone". Das Publikum feierte ihn zurecht (der große Chor müßte ihn eigentlich auch beeindruckt haben) und mit diesen Songs zeigte er allen, wie ein Bob-Dylan-Song zu klingen hat. Irgendwann im zweiten Drittel des Sets wurde wohl dem Großteil des Publikums bewußt, bei diesem Konzert auf Bob Dylans Mundharmonika verzichten zu müssen, was natürlich recht historisch anmutet, wird man aber seinen konzentrierten Gesang und sein motiviertes Gitarre-Spiel gewahr, nimmt es schon weniger Wunder.
Die größere Überraschung war eigentlich, an Stelle des vertrauten "All Along The Watchtower"-Riffs nach dem zweiten Song etwas Unvertrautes zu hören ("Was ist das? Er hat 'mama' gesungen, vielleicht 'Tell me momma?'"). Nach einigen Jährchen also ein "Watchtower"-loses Konzert und siehe da - es fehlt! Durch das Nicht-Spielen des Songs wird einem dessen Größe bewußt, die grandiose erste Textzeile und das zumeist phantasievolle Gitarrensolo in der Mitte.
Der Song fehlt - dies, das letzte Drittel von "Cocaine" sowie das darauffolgende "Seeing The Real You At Last" waren auch die Schwachpunkte des Konzerts. "Cocaine" verflachte plötzlich, als ob sich die Musiker nicht einig gewesen wären, ob sie weiterspielen sollen oder lieber doch nicht. Sie spielten weiter. "Seeing The Real You At Last" war fad; nicht mehr und nicht weniger. Diese eineinhalb Lieder wirkten etwas deplaziert.
Alles in allem bereitete Bob Dylan seinen Zuhörern wieder einmal große Freude und schien auch selbst größte Freude daran zu haben, weiterhin live auftreten zu können. [mh]


Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:


Permalink: http://schallplattenmann.de/a101893


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