#694 vom 01.11.2010
Rubrik Kolumne
Sal's Prog Corner #91
Wiederveröffentlichungen und "alte Helden" bilden den Schwerpunkt der heutigen Ausgabe der Prog Corner. Zufall? Dieses Mal wohl kaum. Bei der Flut von Neuveröffentlichungen, die mir in den letzten Wochen in die Hände geraten sind, war wieder jede Menge Massenware, Mediokres, Austauschbares dabei. Das muss niemand gehört haben und ich muss auch nicht ewig darauf rumhacken. Dann doch lieber einige old friends, ergänzt durch ein paar hörenswerte (Gar-nicht-so-)Newcomer. Es kommen auch wieder bessere Zeiten für neue Bands. Bis dahin wünsche ich viel Spaß beim Lesen und keep on proggin'... [sal]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Nichelodeon "Il gioco del silenzio"
Anti-Pop/Avantgarde – Nichelodeon 2.0
(CD; Lizard)
Ende 2008 war das Debüt "Cinemanemico" der italienischen Avantgarde-Band Nichelodeon [sprich 'Nickelodeon', das 'ch' klingt im Italienischen wie 'k'] eine der aufregendsten Neuerscheinungen des Jahres. Die Mischung aus psychedelischen, elektro-akustischen Klängen und Claudio Milanos sensationeller Stimme weckte Erinnerungen an die experimentellsten Werke von Tim Buckley oder Area-Sänger Demetrio Stratos.
Nun ist mit "Il gioco del silenzio" ('Das Spiel der Stille') das zweite Album der Band erschienen, das gleichzeitig auch wieder ein Debüt ist: Von der ersten Besetzung ist nur Claudio Milano übrig geblieben, ergänzt wird er nun durch ein sechsköpfiges Ensemble, das – anders als beim Debüt mit Projekt-Charakter – die weiteren Jahre nun als feste Band bestreiten möchte. Auch die Tracklist weist einige Ãœberschneidungen auf, der Sound der Band hat sich aber geändert. Vom Psychedelischen des Debüts ist nicht mehr viel übrig geblieben, stattdessen sorgen Bläser, Streicher und diverse elektrische und akustische Saiteninstrumente sowie wohl dosierte Percussion (kein richtiges Schlagzeug!) für eine fast theatralische Atmosphäre. Dies macht, gepaart mit Milanos ungewöhnlicher Art seine Stimme als Instrument einzusetzen und einigen improvisierten (Freejazz-) Momenten, aus dem Album gewiss keine leichte Kost. Wer aber Experimentelles mag und nicht gleich vor jeder Dissonanz zurückschreckt, sollte unbedingt einmal in Nichelodeons "Il gioco del silenzio" hineinhören.
Anspieltipps: "Fiaba", "Fame", "Apnea".
Das Album ist derzeit im günstigen Bundle mit der ersten Live-DVD der Band "Come sta Annie?" exklusiv auf der Webseite des Sängers erhältlich. [sal: @@@@]
Jethro Tull "Stand Up"
Prog/Folk/Bluesrock – Klassiker im Deluxe-Gewand (1969/70)
(2CD+DVD; Chrysalis)
Mit einer gewissen Berechtigung kann man behaupten, dass das zweite Jethro-Tull-Album "Stand Up" (1968) das erste richtige Jethro-Tull-Album war. Das Debüt "This Was" (1968) war noch stark bluesorientiert, auch wegen des Leadgitarristen Mick Abrahams. Ab dem zweiten Album dominierte Ian Andersons Faible für Folk und eklektizistische Musik den Sound. Abrahams verließ die Band und wurde durch Martin Barre ersetzt, der bis heute neben Anderson die einzige Konstante der Tull-Besetzung geblieben ist. Unsterblich wurde das Album durch die berühmte Bach-Adaption "Bourrée" (aus der Suite für Laute in e-Moll, BWV 996).
Bereits 2001 erschien eine remasterte und erweiterte Ausgabe des Albums. Diese wurde nun für die jetzt erschienene 'Deluxe Edition' noch einmal um zahlreichen Bonus-Tracks erweitert, hauptsächlich BBC-Aufnahmen und das zuvor in voller Länge nur in dem Box-Set "25th Anniversary Box Set" (1993) erhältliche Konzert aus der Carnegie Hall vom 4.11.1970, letzteres doppelt als Audio-CD und als Bonus-Audio-DVD in verschiedenen Abmischungen (DTS, Dolby Digital 2.0 und 5.1, LPCM stereo) und ungekürzten Ansagen (die auf die Audio-CD so nicht gepasst hätten) sowie einem zusätzlichen Interview mit Ian Anderson zum Album. Das Cover ist sehr schön als Pop-Up-Sleeve gestaltet, das Booklet mit neuen Liner Notes versehen, kurzum: Die ultimative Version eines bahnbrechenden Albums für die Band, das übrigens das einzige Nummer-Eins-Album der Band in Großbritannien bleiben sollte. [sal: @@@@@]
T "Anti-Matter Poetry"
Progressive Rock/Postrock – Was lange währt...
(CD; Progrock)
»Kino für den Kopf« steht immer wieder in Besprechungen der Musik des (deutschen) Multiinstrumentalisten T und tatsächlich ist auch sein drittes Album "Anti-Matter Poetry" wieder ein düsterer Trip ins Ich geworden. Einem ich, das zerrissen ist zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Trivialität und Genie, zwischen Kunst und Kitsch: Der Mensch im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Größe und Kleingeistigkeit. T hält sich und uns auf "Anti-Matter Poetry" den Spiegel vor.
Vier Jahre hat T für das Album benötigt und viel Zeit, viel Sorgfalt, viel Akribie dafür aufgebracht. Das hört man dem Album an, dessen Details sich erst nach und nach – am besten unterm Kopfhörer – erschießen. An die emotionale Intensität und die Magie des Vorgängers "Voices" (2006) kommt "Anti-Matter Poetry" meiner Meinung nach nicht ganz heran; mir ist aber klar, dass man das auch anders empfinden kann. So oder so befinden sich Ts Alben allesamt auf einem hohen Niveau. Wer glaubt, dass aus Deutschland nur provinzieller (Prog-) Rock kommt, wird hier eines besseren belehrt, nicht umsonst veröffentlicht T sein drittes Album bei einem US-amerikanischen Label.
"Anti-Matter Poetry" klingt modern, unverkrampft, düster, hypnotisch und introvertiert: Ein traurig-schöner Soundtrack für den kleinen Jungen (oder das kleine Mädchen) in uns, das immer noch davon träumt, eines Tages etwas Einzigartiges zu schaffen. So wie es T mit diesem Album geschaffen hat, vielleicht. [sal: @@@@]
Soft Machine Legacy "Live Adventures"
Canterbury – Durchaus lebendig
(CD; Moonjune)
(The) Soft Machine Legacy sind so etwas wie die Erbverwalter der Canterbury/Jazzrock-Legende Soft Machine, die in den 1970er Jahren eine Reihe von erstaunlichen Alben produzierten, auf denen sie – in stetig wechselnder Besetzung – Fusion, Progressive Rock, Psychedelic Rock und Freejazz in veränderbaren Anteilen neu mischten. 1984 löste man sich endgültig auf, die einzelnen Mitglieder arbeiteten weiterhin immer wieder zusammen. Seit 2004 tourt man unter dem Namen Soft Machine Legacy durch die USA und Europa, doch der stete Besetzungswechsel bleibt ein Merkmal der Band: Mittlerweile sind die Soft-Machine-Urgesteine und Mitmusiker der Legacy-Neugründung Elton Dean (sax) und Hugh Hopper (b) verstorben, sie wurden durch Theo Travis (sax, fl) und Roy Babbington (b) ersetzt, letzterer war schon einmal in den 1970ern Ersatz für Hopper gewesen.
Die vorliegende CD fasst Aufnahmen ihrer Tournee 2009 in Europa zusammen. Zu hören sind alte Kompositionen ("Facelift", "Gesolreut"), aber auch einige neue (etwa "The Last Day"). Selbstverständlich können diese Aufnahmen nicht an die Hochphase der Ursprungsband zwischen 1970 und 1975 anknüpfen, sie wirken aber andererseits wieder deutlich lebendiger, inspirierter und nicht so wahllos, wie auf dem Vorgängeralbum "Steam". Die Rente kann also noch ein wenig warten.
Wie alle Scheiben des New Yorker Labels Moonjune, gibt es dieses Album dort auch günstig und ohne übertriebene Portokosten. [sal: @@@]
Syd Barrett "An Introduction To"
Psychedelic Rock – Gelungene Retrospektive (1967-1970)
(CD; Harvest)
Syd Barrett war eine schillernde Figur bei den frühen, damals noch stark psychedelischen Pink Floyd. Der Sänger und Gitarrist prägte die frühen Jahre der Band, wurde aber, kaum dass ihr Debüt "The Piper At The Gates Of Dawn" 1967 veröffentlicht war, bei den Aufnahmen zum zweiten Album "A Saucerful Of Secrets" durch seinen Schulfreund David Gilmour ersetzt: Drogen hatten Barrett labil gemacht. Er veröffentlichte noch zwei Solo-Alben "The Madcap Laughs" und "Barrett" (beide 1970), doch sein psychischer und körperlicher Verfall machte alle Hoffnungen auf eine Solo-Karriere zunichte.
Die vorliegende Zusammenstellung "An Introduction To Syd Barrett" fasst erstmalig seine wichtigsten Aufnahmen aus der Pink-Floyd-Ära und von seinen Solo-Alben zusammen. Die Songs wurden teilweise von David Gilmour remixt, das Artwork von Storm Thorgerson liebevoll gestaltet. Ein bisher unveröffentlichter Bonus-Track ("Rhamadan") steht auf der Website exklusiv für die CD-Käufer bereit. Alles in allem bietet das Album das, was es namentlich verspricht: Eine (sehr gute) Einführung in die musikalische Welt Barretts. [sal: @@@@]
<#070: Pink Floyd "The Piper At The Gates Of Dawn"> [bs:Â @@@@]
<#476: David Gilmour "On An Island"> [sal:Â @@@@]
<http://de.wikipedia.org/wiki/Syd_Barrett>
<http://sydbarrett.com/>
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
Yes "Keys To Ascension"
Progressive Rock – Close To The Edge (1996)
(4CD+DVD; Proper)
Als Yes vom 4.-6.3.1996 in San Luis Obispo, Kalifornien zu einigen Konzerten in der 'Classic'-Besetzung (Jon Anderson, voc; Steve Howe, g; Chris Squire, b; Rick Wakeman, keyb; Alan White, dr) zusammenfanden, war das – vom heutigen Standpunkt aus gesehen – ein letztes Aufflackern des glorreichen 1970er-Sounds der Prog-Giganten. Die 1980er hatten Yes zwar ihren größten Erfolg beschert ("Owner Of A Lonely Heart", 1983), aber die Fans liebten vor allem die epischen Kompositionen ihrer frühen Jahre. Also beschloss man bei diesen Comeback-Konzerten nur altes Material zu spielen.
Die Auftritte wurden damals aufwändig mitgeschnitten und auf zwei Doppel-CDs ("Keys To Ascension Vol. 1 & 2", 1996/97) und später dann auch auf einer Konzert-DVD veröffentlicht. Der große Erfolg der durchaus hörenswerten Aufnahmen blieb aber aus, vor allem weil es der Plattenfirma nicht gelang, die Alben sinnvoll zu promoten. Bei Yes folgte dann ein regelrechter Eiertanz zwischen dem verzweifelten Versuch einen neuen, zeitgemäßen, kommerziell erfolgreichen Mainstream-Sound zu finden ("Open Your Eyes", 1997) oder den alten Sound zu imitieren und variieren ("Magnification", 2001). Beides misslang und die Band zerfiel, einmal mehr, in mehrere Teile. Es ist im Grunde die sich ständig wiederholende Story der Rockband, die nicht aufhören kann und sich immer wieder mit halbgaren Veröffentlichungen degradiert: Yes arbeitet derzeit mit neuem Sänger (aus einer Yes-Cover-Band) und Oliver Wakeman (Sohn von Rick) an den Tasten an einem neuen Album, also ohne Anderson und Rick Wakeman, die wiederum gerade selbst ein gemeinsames Album veröffentlicht haben.
"Keys To Ascension" war, auch wegen der neuen Studiotracks, die damals zu den Live-Veröffentlichungen produziert wurden, das letzte positive Zeichen, dass die Band setzen konnte.
Die jetzt veröffentlichte 4CD+DVD-Box vereint erstmalig das gesamte Audio- und Videomaterial jener Konzerte, preisgünstig und hübsch aufgemacht im typischen Roger-Dean-Cover. [sal: @@@@]
<#515: Jon Anderson "Tour Of The Universe"> [sal:Â @]
<#450: Steve Howe "Spectrum"> [sal:Â @]
<#165: Oliver Wakeman "Heaven's Isle"> [sal:Â @@@]
<#494: White "White"> [sal:Â @]
<http://de.wikipedia.org/wiki/Yes_(Band)>
<http://www.rogerdean.com/>
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight