Hinweis: Ihr Browser unterstützt nicht alle grundlegenden Web-Standards, und deshalb sehen Sie diesen Hinweis und das Layout nur in Auszügen. Bitte verwenden Sie einen aktuelleren Browser.

Keine Anzeige
LogoSeit 1996: Aktuell und unabhängig!

[ << | Inhalt | >> ]Ausgabe #525 vom 12.03.2007
Rubrik Texte - lesen oder hören

Stanislaw Lem / Peter Rothin "Solaris"

Und der Gedanke wird Fleisch – Metaphysisches Hörspiel über die Konfrontation mit nichtmenschlicher Intelligenz und an die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit
(2CD; Audio Verlag)

Im Werk des Schriftstellers und Essayisten Stanislaw Lem ("Kyberiade", "Der futurologische Kongreß", "Der Unbesiegbare") steht der 1972 erschienene Roman "Solaris" in mehrfacher Hinsicht einzigartig da. Keine andere erzählerische Veröffentlichung des Polen entzieht sich mit so ausdauernder Beharrlichkeit einer ultimativen Deutung, provoziert derart multiple Interpretationsmetastasen und Debatten über seine Klassifizierung. Es scheint nicht einmal sicher, dass es sich um Science Fiction im herkömmlichen Sinn handelt. Lem-Stoffe bedeuten eben immer auch Bewegung in Grenzbereichen. Zudem enthält die Geschichte das Mysterium des menschlichen Unbewussten und damit auch das seines Autors. Außer in "Solaris" wird sich der Atheist Lem niemals wieder in derartige Nähe eines schöpferischen (nicht technischen) Gottes begeben und seine Leser einer weiblichen Hauptfigur von so zentraler Bedeutung begegnen lassen.
Der um eine rote und eine blaue Sonne kreisende Planet Solaris, von zwanzigfacher Erdgröße, ist fast vollständig von Polytheria umgeben, einer Art Plasma-Ozean mit rätselhaften Eigenschaften, die bis zur Aufhebung physikalischer Gesetzmäßigkeiten reichen. Die vor hundert Jahren entdeckte präbiologische, gallertartige Masse gilt als einziger Bewohner des Planeten und eine ganze Wissenschaftsrichtung, Solaristik genannt, versucht sich seitdem erfolglos an einer Kontaktaufnahme. Der Mensch trifft auf eine Existenzform, die nicht menschenähnlich ist und die nicht verstanden werden kann, da dies jenseits des menschlichen Erkenntnishorizonts liegt. Die unverzagten Kosmos-Eroberer gleichen einer Ameise, die mit einer Fahne winkt, und drohen bereits bei ihrem allerersten Zusammentreffen mit fremder Intelligenz zu scheitern. Auf wissenschaftliche Fragen erhalten sie philosophische Antworten. Die gesamte Solaristik gerät in eine schwere Krise und zwingt die Beteiligten zur Selbstreflektion.
Der Psychologe Kris Kelvin findet die Raumstation über Solaris bei seinem Eintreffen in desolaten Zustand vor. Gibarian ist tot, die beiden verbliebenen Kosmonauten Snaut und Sartorius haben sich in ihren Räumen verbarrikadiert und scheinen zudem paranoid zu sein. Wie der Neue kurz darauf erfährt, ist der Ozean Auslöser dieser Zustände und obendrein einiger anderer seltsamer Begebenheiten. So materialisiert dieser das Unbewusste der Raumfahrer: Deren tiefste Ängste, ihre Schuld, verdrängte und geheime Wünsche erscheinen in realer Gestalt den sogenannten Gästen, Phantomen oder F-Gebilden. Das Plasma exzerpiert den dunklen Fleck der Menschen. Und der Gedanke wird Fleisch.
Kelvin sieht sich mit seiner großen Liebe Harey konfrontiert, für deren Tod er sich verantwortlich fühlt. Sie muss immer in seiner Nähe sein und entwickelt übermenschliche Kräfte als er versucht sie loszuwerden. Auf der Suche nach Erlösung schwankt er zwischen Schuld und Anziehung. Erst nachdem der Ozean mit harter Strahlung bombardiert wird, bleiben die Gäste aus. Der erneute Selbstmord Hareys fällt mit der Erkenntnis zusammen, dass eine Kommunikation zwischen Mensch und Ozean nicht möglich ist. Prometheus wankt. In Zeiten grausamer Wunder bleibt nur die Wahrheit des Unmöglichen. Die Suche nach dem ganz Anderen, nach fremden Lebensformen, ist in Wahrheit die Suche nach einem Sinn. Der Mensch braucht keine anderen Welten, er sucht Spiegel, er sucht sich selbst.
Mit "Solaris" macht sich Stanislaw Lem an die Kreation einer Art Wunschmaschine, auf die freilich seine wünschenden Kreaturen nur bedingt Einfluss haben (schließlich erfolgen nur zwei Prozent der Hirnaktivität bewusst). Er lässt seinen Denk-Ozean bessere 'Menschen' erschaffen – zumindest was Haltbarkeit und Regenerationsfähigkeit anlangt: Neutrino-Gebilde, die ebensowenig wie ihre zweifelnden Originale wissen, weshalb es sie gibt. Am Ende geht es um die (versuchte) Zerstörung der Solaris, denn was der Mensch nicht begreifen kann, trachtet er lieber zu vernichten. Die Krone der Schöpfung will forschen und nicht erforscht werden. Sie erträgt keine Entität über sich, schon gar keinen Gott.
Mit der mehr als zweistündigen Hörspielfassung – ein akustischer Farbfilm für den Kopf (-hörer) – gelingt dem MDR und seinem Regisseur Peter Rothin ("Dunkle Kammern", "Rot ist mein Name") was weder Tarkowskij (Lem: »Er ist sehr symphatisch und hat ein einnehmendes Wesen. Allerdings hat er gar nicht "Solaris" sondern "Schuld und Sühne" verfilmt.«), noch Soderbergh schafften (Lem: »Absoluter Blödsinn. Dagegen sei selbst Tarkowskijs Version ein Meisterwerk. Immerhin war das Schmerzensgeld anständig.«). Zudem sah man sich beim MDR in der Lage, für diese herausragende Produktion ganz wunderbare Schauspieler bzw. Sprecher verpflichten zu können. Einfach brillant sind Oliver Stokowski ("Der Ermittler") und Maria Simon ("Good Bye, Lenin!") in ihren Rollen als zweifelndes und verzweifeltes, sich verhinderndes Liebespaar Kelvin und Harey, Bernhard Schütz als sarkastischer Snaut und natürlich einmal mehr der überragende Hans Peter Hallwachs ("After The Truth", "Rosenallee") als ebenso verletzender, wie verletzlicher Sartorius. Dazu kommt die famose Schnitttechnik von Christian Grund und die exzellente Musik von Mario Schneider, der auch die 'hintergründigen' Effekte, Geräusche und Klänge verantwortet, die diese Hörspielinszenierung zu einem hinreißenden Genuss und künftigem Klassiker macht.
Da Lem im zugrunde liegenden Roman ausgiebige Einschübe über die von ihm erfundene Geschichte der Solaristik vornimmt, wurden für das Hörspiel einige Änderungen vorgenommen. So gibt es nun eine Art Rahmenhandlung, die in Form einer Konferenzschaltung wesentliche Teile dieser monologisierenden Texte einbindet. Da dies in sich schlüssig gelingt, wäre wohl selbst Stanislaw Lem mit dieser Version sehr zufrieden gewesen. Lediglich die kraterübersäte Oberfläche eines Mondes, die auf dem CD-Cover zu sehen ist, geht thematisch daneben. Dafür trifft man auf ein beispielhaftes Booklet (mit einem seltenen Plakatmotiv versehen), das zudem auch auf das letzte lange Interview Lems vor seinem Tod für die Zeitschrift Galore hinweist. [gw: @@@@@]


Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:


@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight


Permalink: http://schallplattenmann.de/a115603


(cc) 1996-2016 Einige Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist unter einem Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung Lizenzvertrag lizenziert. Um die Lizenz anzusehen, gehen Sie bitte zu http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/.

http://schallplattenmann.de/artikel.html
Sprung zum Beginn der Seite