#640 vom 17.08.2009
Rubrik Texte - lesen oder hören
Adolf Muschg / Walo Lüönd "Der Zusenn oder das Heimat"
Hörbuch – ein Bergbauer begründet
(CD; Christoph Merian Verlag)
War es wirklich so schlecht, was der 57-jährige Bauer mit Einverständnis seiner Töchter um deren Nähe willen und gegen die bittere Kälte auf dem abgelegenen Hof gemacht hat? Er habe für seine Töchter nur das Beste gewollt, schreibt der Bauer aus der Untersuchungshaft an das Hohe Gericht, und erklärt sich schriftlich, »weil meine mündlichen Worte zu Ihrer Zufriedenheit nicht ausreichen«.
Der Text ist heute nicht mehr so brisant wie in den 1970er Jahren, als Adolf Muschg ihn erstmals veröffentlichte. Doch die Zwischentöne – Walo Lüönd, einer der bekanntesten Schweizer Schauspieler ("Die Schweizermacher"), verkörpert den Bauer mit schwerem Akzent – machen den Text zeitlos. Und wer die Begebenheit als Fallbeispiel nimmt, steht auch heute noch vor einer großen Aufgabe. Der Bauer ist kein Monster, sondern vielleicht selbst Opfer. Er beschönigt nichts, sondern erklärt sich nur. Er versteht nicht, warum er bestraft werden muss, wo es durch den Inzest doch allen besser ging, aber er wird eine Bestrafung klaglos akzeptieren.
Muschg lässt offen, ob sein Protagonist nur naiv und ungebildet ist, ob er durch die Dorfgemeinschaft an den Rand gedrängt und indirekt zum Verbrecher wurde, ob er schlicht psychisch krank ist oder gar abgefeimt und kalt. Damit wirft er auch heute noch die Frage nach Schuld und Unschuld auf und provoziert die Auseinandersetzung mit der Frage nach Vergeltung und Moral. [noi: @@@]
@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight
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