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[ << | Inhalt | >> ]Ausgabe #566 vom 14.01.2008
Rubrik Texte - lesen oder hören

Ronan Bennett "Zugzwang"

Hörbuch in gekürzter Lesefassung – Ein Schachspiel mit lebenden Personen, die nicht wissen ob sie Spieler, Figuren oder Opfer sind
(4CD; Hörverlag)

Wie Musik ist auch Schach eine fließende Kombination aus Form und Phantasie; eine kreative Kunstform und kein Sumo-Ringen in Zeitlupe. Für manche ist es ein Abbild des Lebens, für andere das Leben selbst. Diese Welt hat 64 Felder, 32 davon sind zu Beginn von 12 unterschiedlichen Figuren besetzt, wobei sich die Asymetrik der Grundstellung durch die Damen ergibt: die weiße steht vom Spieler aus links, die schwarze rechts vom König. »Die Eröffnungszüge lassen 40 Möglichkeiten zu; für die ersten vier Züge stehen über 300 Milliarden Varianten zur Verfügung.« Selbst versierte Großmeister bekommen diesen gewaltigen Schachkosmos allein mit schierer Rechenleistung nicht mehr in den Griff. Das Zauberwort heißt Intuition.
Letztere hatte auch der nordirische Schriftsteller und Drehbuchautor Ronan Bennett, der der Faszination dieser 8x8 Felder seit Langem verfallen ist und nun einen leidenschaftlichen Verschwörungsthriller darüber geschrieben hat. Ein literarisches Schachspiel mit lebenden Personen, die nicht wissen ob sie Spieler, Figuren oder Opfer sind. In "Zugzwang" (so bezeichnet man die Stellung eines Spielers, der ziehen muss, obwohl jeder Zug seine Stellung verschlechtert) verbindet der Autor das reale Schachturnier von St. Petersburg im Jahre 1914 mit einer fiktiven Geschichte um politische Intrigen und Terror unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Bei dem spektakulären Turnier soll unter den anwesenden Schach-Ikonen Lasker, Capablanca, Aljechin, Tarrasch, Marshall und Rubinstein (bei Bennett: Rozental) der erste Schachgroßmeisters der Geschichte, aber auch der Herausforderer des amtierenden Weltmeisters ermittelt werden. Aber in St. Petersburg geht es nicht allein um die Züge zweier lackierter Könige aus Holz und ihres Gefolges. Auf ungleich größerem Spielbrett führen Geheimdienste, Polizei, Verschwörer und bolschewistische Revolutionäre eine ebenso raffinierte wie erbitterte Schlacht um das Schicksal Russlands, das des Zaren und ihr eigenes.
Als Schlüsselfigur einer explosiven Rochade soll der große Favorit des Turniers fungieren, der weltfremde und schwer gestörte Pole Awrom Rozental. In dieser fiktiven Romanfigur verschmelzen der reale Großmeister Rubinstein, der psychopathische Weltmeister Bobby Fischer (Lesetipp: David Edmonds & John Eidinow "Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann"), aber auch literarische Vorgänger wie Thomas Glavinics Carl Haffner aus "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden" und Vladimir Nabokovs Alexander Iwanowitsch Lushin aus "Lushins Verteidigung", die sich allesamt außerhalb der 64 Felder als lebensohnmächtige Genies erweisen.
Die Verschwörergruppe hinter Rozental macht sich Sorgen um die eigene Deckung sowie das Seelenheil ihrer wichtigsten Spielfigur und schickt diese in die Praxis des Arztes Spethmann, dem eigentlichen Protagonisten in "Zugzwang". Neben einer immer wieder unterbrochenen Partie mit seinem Freund, dem Musiker Reuwen Kopelzon, ist der Psychiater Otto Spethmann in ein sehr reales Schachspiel verwickelt, schneller als ihm lieb ist und ein Remis scheint höchst unwahrscheinlich. Dabei hat der Doktor bereits genügend Probleme: als unerkannter polnischer Jude im nicht sonderlich zionistenfreundlichen St. Petersburg, als überforderter Witwer mit antizaristischer Tochter, im Umgang mit recht undurchsichtigen Patienten, die seine Praxis anscheinend als konspirativen Treffpunkt nutzen, mit einem zwielichtigen Freund, der neben Geige und Schach auch mit dem Feuer spielt, und mit der soeben begonnenen Affäre mit der verheirateten, exzentrischen Tochter eines Unterweltpaten, den alle nur den Berg nennen.
Als schließlich auch noch überraschend ein Doppelgänger seines Patienten Rozental auftaucht, der als vermeintlicher Turniersieger während einer Ehrung den Zaren ermorden soll, muss Spethmann feststellen, dass er in Zugzwang geraten ist und längst in einem Spiel spielt, dessen Regeln ihm nicht vertraut sind. Aus Freunden werde Feinde und umgekehrt.
Am Ende wird ein Revolutionär seinen Kopf verloren haben, ein Parteiführer seine Sekretärin, ein Berg (beinahe) seine Tochter, ein bolschewistischer Polizeibeamter seinen Posten, ein Psychiater seine große Liebe und ein Schachspieler einen Turm.
Alles in Allem ein spannendes Spiel mit raffinierter Eröffnung, verlustreichem Mittelteil und melodramatischem Endspiel. Ronan Bennett gelingt hier zweierlei: eine äußerst intelligente Unterhaltung vor teilweise historischem Hintergrund und eine Verführung zum Schachspiel.
Die gekürzte Hörbuchfassung Henriette Zeltners mit der angenehmen Erzählerstimme von Hans Kremer dauert 295 Minuten und ist trotz Streichungen durchaus hörenswert. Will man Bennetts "Zugzwang" allerdings komplett genießen, führt an der Buchausgabe kein Weg vorbei. [gw: @@@@]


@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight


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