#506 vom 16.10.2006
Rubrik Texte - lesen oder hören
Jim Derogatis & Carmél Carrillo (Hrsg.) "Hall Of Shame. Die größten Irrtümer in der Geschichte des Rock'n'Roll"
Hier werden die Rockklassiker niedergemacht
(Buch; Rogner & Bernhard)
Ist Neil Youngs "Harvest" wirklich das unantastbare Meisterwerk? Sind "Born To Run" von Bruce Springsteen und "Never Mind the Bollocks... Here's The Sex Pistols" nicht genauso heillos überschätzte Alben wie das kopflastige Kunstwerk "Pet Sounds" von den Beach Boys? Die Journalisten Jim Derogatis und Carmél Carillo haben rund 30 Autorinnen und Autoren gebeten, den Rock-Kanon zu hinterfragen und damit aufgefordert, einige der unverrückbaren Meilensteine der Rockmusikgeschichte zu zertrümmern. Als wegweisend anerkannte Alben von Pink Floyd und den Rolling Stones, von Bob Dylan, Patti Smith und Nirvana, den Smashing Pumpins, Radiohead und vielen anderen werden zerpflückt: immer energisch, oft nur mit Lust am Draufhauen, mal mit der persönlichen Biographie verwoben und gelegentlich distanzierter und objektiver.
Mit "Hall Of Shame" kehren die Herausgeber das Prinzip der Anthologien vom Schlage 'Warum ich dieses Album großartig finde' um. Das ist durchaus erfrischend – aber nicht durchgehend gelungen. Denn so sehr der persönliche Blickwinkel bei der Präsentation von Alben oder Songs, die für eine bestimmte Lebensphase wichtig waren, angebracht ist, so störend ist er, wenn die anerkannten Heroen vom Thron gestoßen werden sollen. Dann ist das Argument, mit der man die einfältige Musik der Sex Pistols problemlos niedermachen kann, zu dünn und wird von ihrer gesellschaftlichen Bedeutung locker aufgehoben. Und wenn man die Texte eines Liedermachers nicht versteht, disqualifiziert einen das möglicherweise nur selbst.
Daher erreicht das Buch sein Ziel nicht, eine "Hall Of Shame" zu errichten. Trotzdem ist es immer wieder erfrischend, sich auf andere Standpunkte und Argumente einzulassen – selbst wenn man die Meinung der Schreibenden nicht teilt. Während es bei der Präsentation von Lieblingsalben völlig reicht sie mit persönlichen Vorlieben zu begründen, sollte bei der Kritik des Kanons der Sachverstand im Vordergrund stehen – der hält sich hier jedoch zu oft vornehm zurück.
Was bleibt, ist ein schon aufgrund der unterschiedlichen Autorinnen und Autoren abwechslungsreiches Buch mit mitunter durchaus vergnüglichen Texten. [ms: @@]
@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight
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