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[ << | Inhalt | >> ]Ausgabe #460 vom 31.10.2005
Rubrik Texte - lesen oder hören

Ralf Dombrowski "Basis-Diskothek Jazz"

120 Alben von A bis Z. Anregungen satt und kurz.
(Tb.; Reclam)

Wo Wissen expandiert, sind Kanons gefragt. Lassen wir mal die trivialen TV-Kanons à la "Die besten 50 Serien aller Zeiten", "Die nervigsten 50 Hits aller Zeiten" beiseite. Ernsthaft, es war Prof. Dietrich Schwanitz, der mit "Bildung" seinen brauchbaren wie beliebten Kanon geschichtlicher und musischer Allgemeinbildung vorlegte. Kritiker-Genius Marcel Reich-Ranicki kniffelt jetzt seit ein paar Jahren an seinem literarischen Kanon: Gedichte, Romane, Erzählungen, Dramen.
Auf musikalischem Feld gab Maestro Joachim Kaiser bereits vor zehn Jahren, 1995, mit "Kaisers Klassik" 100 Meisterwerken die Ehre. Im Jahr 2000 legte Karl Bruckmeier mit "Soundcheck – Die 101 wichtigsten Platten der Popgeschichte" nach. Aktuell schnitzt das Pop-Magazin Visions an den 150 Besten der Popgeschichte – ein bisschen viel? Bedenkt, Michel aus Lönneberga reichten 100 Figuren! Das weiß auch der Reclam-Verlag, der will jetzt in den Kanon-Markt, will günstig Wissen verlisten. Bevorzugtes Format: Kleine gelbe Büchlein, die uns als Schüler schon erschreckten.
Neben der "Basis-Diskothek Rock und Pop – 100 Alben von A bis Z" bringt Reclam die "Basis-Diskothek Jazz" raus. Ralf Dombrowski (40), tätig für die Süddeutsche, JAZZthetik uvm., traf die heiße Auswahl. 120 Alben von A bis Z.
Natürlich, der Jazz ist rund hundert Jahre alt, da gibt es einen Kanon von Jazz-Produktionen, auf den sich Jazzhörer aller Couleur gerne einigen. Und die nennt Dombrowski: Zum Beispiel Dave Brubecks "Time Out" (1959). Dombrowski zeigt Track für Track, wie Brubeck sich für Jazz-untypische Metren, teils von klassischen Tänzen adaptiert, entschied und so dem Jazz neue Formen und eben neue Gefühlswelten erschloss.
Natürlich gehört auch Miles Davis' "Kind of Blue" (1959) zum Jazz-Kanon. Miles Davis pausierte als Zuhälter, "ich hatte einen Stall voller Nutten", da ging er wieder ins Studio. Er wollte ein Gefühl vertonen, seine Erinnerung "als ich mit meinem Cousin die dunkle Landstraße in Arkansas entlangging und wir diese wahnsinnigen Gospelsongs aus der Kirche hörten. Genau dieses Gefühl wollte ich einfangen", sagt er in seiner Autobiographie. Mit im Kanon sind von Davis auch "The Complete Birth of The Cool" (1948/50), "Bitches Brew (1969) und "We Want Miles" (1981).
Für Keith Jarretts "The Köln Concert" (1975) sind in aller Welt Millionen Räucherstäbchen verglüht und Kinder ganzer Städte gezeugt worden – das gehört zum Kanon! Wie ich von Vera Brandes, die damals als Teenager die Organisation machte, erfuhr, wollte Jarrett gar nicht auftreten. Der Flügel sei verstimmt. Die dynamische Vera überredete ihn. Dombrowski wählt von Jarrett auch die "Standards Vol. 1" (1983) aus.
Auch dabei: Mahavishnu Orchestras "Inner Mounting Flame" (1971) war im Erscheinungsjahr für den Melody Maker "Pop album of the year" und ebenso "Jazz album of the year", das zeigt der orangene Button auf meiner originalen LP. Sie waren Popstars. "Ein Glücksfall der Jazzgeschichte", resümiert Dombrowski.
Und natürlich sind auch die altvorderen Giganten dabei, die aus Jazz den Pop machten, wie Jelly Roll Morton "The Piano Rolls" (1923), Louis Armstrong "Hot Five & Hot Seven" (1925-29), Benny Goodman "At Carnegie Hall" (1938).
Dies Buch ist auch eins für Jazz-Verächter. Gerade sie dürften folgende Alben aus der Dombrowski-Liste zuhause stehen haben: Herbie Hancock "Headhunters"(1973), Al Jarreau "Glow" (1976), Weather Report "Heavy Weather" (1976), Grover Washington Jr. "Winelight" (1980), Pat Metheny "Travels" (1982), Bobby McFerrin "The Voice" (1984) und Cassandra Wilson "New Moon Daughter (1995).
Dombrowski gibt zu jedem Album ein- bis zweiseitige Erläuterungen ab. Stellenweise gerät das musikwissenschaftlich sehr versiert, dürfte schmissiger sein, bleibt aber immer spannend. Auch bei den Alben, die kaum jemand kennen dürfte: Jan Johansson "Folkvisor: Jazz Pa Svenska/Jazz Pa Ryska" (1963), World Saxophone Quartet mit "Revue" (1980) oder Lester Bowie Brass Fantasy "Avant Pop" (1986). Einzig sichtbares Manko: Die CD-Covers sind nicht abgedruckt.
Wem 120 Alben zu wenig sind, der kann sich Reclams Jazzführer besorgen (Geschichte, Personen, Kompositionen des Jazz) oder Reclams Jazzlexikon (aufgeteilt in Personen- und Sachteil). Pflicht und Kür: Jeder Jazzfan sollte sicherlich "Das Jazzbuch" von Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann genossen haben. Wie auch immer, für den geringen Preis bietet die "Basis-Diskothek" einen exzellenten Wanderführer durch den heißen Dschungel des Jazz, mit 120 Stationen zum Staunen. [vw: @@@@]


@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight


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