#459 vom 24.10.2005
Rubrik Texte - lesen oder hören
Uwe Schütte "Basis-Diskothek Rock und Pop"
Buch: Schüttes 100 wichtigste Alben – Schock, Entsetzen, Provokation
(Tb.; Reclam)
Jeder Einzelne in unserer Redaktion hätte ein Nah-Orgasmus-Erlebnis, würde ihm ein Verlag anbieten, seine 100 liebsten Platten des Pop und Rock aufzulisten, jeweils mit 10 bis 15 Sätzen kommentiert. Aber wir sind keine prominenten Schriftsteller wie Nick Hornby (48). Der konnte seinem Verleger seine liebsten "31 Songs" (2003) aufs Auge drücken. Wir sind auch nicht so talentiert wie unser Kollege Karl Bruckmeier (49). Der hat bereits 1999 mit "Soundcheck – Die 101 wichtigsten Platten der Popgeschichte" einen Meilenstein gemeißelt: "Hinter mir stehen 18 Meter Langspielplatten, links daneben unvermessene CD-Regale." So stürzt sich der Musikjournalist in Ich-Form in seine 101 Schmonzetten, definiert im Vorbeigehen rund 30 Stilrichtungen des Rock und Pop. Grandios! Zu meckern hätte ich trotzdem, wie sicher jeder von euch: Warum sind meine Top 10 aller Zeiten nicht unter seinen 101 besten aller Zeiten?! Das ist das Wagnis, das ist der Reiz, das ist die Tantalusqual an einer jeden Liste wie dieser!
Jetzt tritt Dr. Uwe Schütte (38) an. Der arbeitete lange als Musikjournalist, ist heute Unidozent für deutsche Kultur und Geschichte in Großbritannien. Ging es Nick Hornby um Songs, die in seinem Leben entscheidend waren, Karl Bruckmeier um Vielfalt mit starker Ich-Perspektive, so hält Schütte sein 'Ich' raus aus den Texten. Offene Leidenschaft weicht möglichst objektivem Ton: Schütte sortiert seine wichtigsten 100 Alben des Rock und Pop schlicht "von A bis Z".
Das beginnt bei AC/DC "Highway To Hell" (1979) und endet bei Neil Young & Crazy Horse "Rust Never Sleeps" (1979). Sein frühstes Album ist von 1956: Elvis Presley "Elvis"; sein jüngstes von 2000: Pulp "We Love Life".
Jedes der 100 Alben bekommt zwei Seiten Kommentar mit auf den Weg. Im kleinen Glossar definiert er 25 Stilarten des Rock und Pop. Sehr bewandert, sehr gut. Meckern? Muss ich. Klaro. Schütte sieht weder ein Album von Stevie Wonder, Eric Clapton, J.J.Cale, dem frühen Joe Cocker, dem frühen Rod Stewart, Cat Stevens, James Taylor, ZZ-Top, Deep Purple, Van Halen, Rainbow, Thin Lizzy, Jethro Tull, Björk, Genesis, Rory Gallagher, der Red Hot Chili Peppers noch von Little Feat unter den Top 100. Ich hätte sogar Billy Cobhams "Spectrum" (1973) dazugenommen, das virtuose Pop-Album des Jazz-Rock, das den TripHop prägen sollte. Jazz-Rock lässt Schütte aber ganz raus. Acid Jazz der 1990er auch. Also keine Brand New Heavies & Co. Böhser Onkel, du!
In der Liste sind jedoch auch zwei Dutzend Alben, auf die wir uns alle einigen können, wie: The Beatles "Sgt. Pepper" (1967), The Jimi Hendrix Experience "Electric Ladyland" (1968), The Who "Who's Next" (1971), Lou Reed "Transformer" (1972). Okay. Aber schon bei Joni Mitchell würde ich statt "Blue" (1971) eher "Hejira" (1976) mit Jaco Pastorius nehmen. Da ich die Musik der 1980er Jahre gehasst habe – ich war Teenie und suchte starke Bands, sah nur in blasse oder schleimige Gesichter –, fehlt mir der Zugang zu Visage "Visage" (1980), zu The Housemartins "London 0 Hull 4" (1986) oder auch David Sylvian "Secrets of the Beehive" (1987). Gehört das zum Besten der Pop-Geschichte? Schüttes unvermeidlich subjektive Liste zwingt zu Entsetzen, Aufregung, ja ist auch Schock. Diese Subjektivität hätte er zumindest in seinen Kommentaren zu den Alben stärker begründen dürfen. Denn aus der Präferenz für eine bestimmte Auswahl von Popmusik spricht immer die eigene Lebensgeschichte.
Dennoch, ich gebe es zu, ist die quälende Schütte-Liste auch unendlich reizvoll. Trefft euch mit Freunden in der Kneipe. Nehmt das 5-Euro-Buch mit. Es wird hoch hergehen. Und ich? Ich werde mir das ein oder andere mir unbekannte Album der Schütte-Liste sicher zulegen und mit spitzen Ohren lauschen. [vw: @@@]
<#460: Ralf Dombrowski "Basis-Diskothek Jazz"> [vw:Â @@@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight
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