#434 vom 02.05.2005
Rubrik Feature
Colin Towns & NDR Big Band "Live at Moers Festival – Frank Zappa's Hot Licks (And Funny Smells)"
Interview mit Colin Towns, dem aufregendsten Big-Band-Leader, Filmmusik-Komponisten und Heavy-Metal-Keyboarder unserer Tage
(CD; Rent A Dog)
Colin Towns eröffnet am 13.5.2005 das "Moers Jazz-Festival". Nichts Besonderes für den sympathischen Briten: Denn im vergangenen Jahr brachte er just in Moers gemeinsam mit der NDR Big Band "Frank Zappa's Hot Licks" zu Gehör: einen berauschenden Jazz-Flug durch das Zappaversum, der jetzt auch als CD erhältlich ist. Doch die breite Masse kennt den Keyboarder woanders her: Colin Towns spielte in den 1970er und 1980er Jahren in der Heavy-Metal-Band Gillan innovative Sounds, die sonst nie in diesem Genre zu hören gewesen wären. 1984 sprach Ritchie Blackmore ihn an, ob er – falls Jon Lord absagte – dessen Platz bei Deep Purple übernehmen wolle. "Das sind alles hervorragende Musiker, aber das Posing auf der Bühne ging mir schon in Ian Gillans Band auf die Nerven."
Towns hatte einen anderen Traum: Jazz komponieren! Arrangieren! Eine Big Band leiten! "Das Wagnis einzugehen, mich im Jazz zu verwirklichen, das ist immer der Wunsch meiner Frau gewesen. Als sie starb, wusste ich, jetzt – oder nie", sagte Towns mir vor Jahren. Und so gründete er Anfang der 1990er Jahre mit Provocateur Records (Fordwich/Canterbury) sein eigenes Label. Aus den Einnahmen von Filmmusiken zu Blockbustern wie "Space Truckers" oder "Die purpurnen Flüsse" subventioniert er sein gigantisches Mask Orchestra, das "Furcht und Erregung verbreitet, wo es nur spielt", wie das Londoner 'Time Out' konstatiert.
Bevor wir auf die Knie fallen: Was steckt nun hinter "Frank Zappa's Hot Licks"?
Volker Wilde [vw]: Colin, du hast immer wieder Projekte mit der NDR Big Band gemacht. 2004 das Zappa-Programm. Wie kam's?
Colin Towns: Frank Zappa war ein wahrhaft origineller Komponist mit einem verblüffenden, ständigen Hunger nach neuen Ideen. Er versuchte, was immer ihn inspirierte, auch in musikalischen Projekten umzusetzen. Und, o Wunder, er machte es stets kommerziell erfolgreich. Wenn er heute neu ins Musik-Business käme, würde das wohl kaum mehr so funktionieren, fürchte ich. Obschon ich einräumen muss: Leute wie er, mit einer echten Vision, die machen auch die unglaublichsten Dinge wahr, trotz eines extrem ungünstigen sozialen Klimas in dem sie agieren. Zappa schaffte seinen Durchbruch in den 1960ern und das war perfektes Timing. Außerdem liebe ich Zappa für seinen Humor, der ein natürlicher Teil seines Lebens und seiner Musik war. Ich frage mich oft: Warum ist bloß ein so großer Teil heutiger Rockmusik so düster?
vw: Wie bist du an die Trackauswahl des latent unüberschaubaren Zappa-Werkes gegangen? Eins ist mir klar: Du magst sein Jazz-Rock-Album "Hot Rats" sehr gern, denn daraus hast du gleich mehrere Titel bearbeitet.
Colin Towns: Ja, das erste Album, das ich mir gekauft habe, war "Hot Rats". Und daher wird es mir immer etwas Besonderes bedeuten. Ich kenne längst nicht das Gesamtwerk von Zappa, habe aber Freunde, die das von sich behaupten und die ich um Rat gefragt habe: Habe ich einen wichtigen Teil von Zappa übersehen? Die 15 Tracks, die ich schließlich nahm, wählte ich rein danach aus, ob sie sich für eine Big Band des 21. Jahrhunderts, angetrieben vom hinreißenden Jazz-Drummer Ian Thomas, eignen. Und wie ich die Solisten – wie Christoph Lauer, Stephan Diez oder Vladyslav Sendecki – in Zappas Musik ziehen könnte, damit sie ihren Teil beisteuern. Insgesamt sollte die Auswahl als Programm funktionieren und sich wie eine Reise anfühlen. Zappa Note für Note nachzuspielen, da würde nichts rüberkommen. Also habe ich die Stücke neu arrangiert und sie, wie Zappa das ja auch oft gemacht hat, neu verbunden.
vw: Hat denn einer der Musiker der NDR Big Band dich mal angerufen und sich gewünscht, dass sein Lieblingsstück von Zappa unbedingt mit reinmuss in "Frank Zappa's Hot Licks"?
Colin Towns: Nein, ich hatte absolut freie Hand. Trotzdem stand ich vor dem Dilemma, dass Zappa so ein gigantisches Gesamtwerk verfasst hat. Klar, habe ich auch einige populäre Stücke von ihm genommen. Ich zielte mit meiner Auswahl auch auf Jazz-Fans ab, die nichts von Zappa kennen!
vw: Bei Deep Purple ist vor einiger Zeit Keyboarder Jon Lord tatsächlich ausgestiegen. Kam die Frage erneut, ob du einsteigen möchstest und wieder deinen bizarren Einfluss im Heavy Metal verbreitest?
Colin Towns: Nein, ich würde auch wieder ablehnen. Ich blicke nach vorn, da ist noch soviel für mich zu lernen! Missversteh' mich nicht, ich bin stolz, dass ich in den 70-ern und 80-ern Teil dieser Rock-Szene war. Aber heute interessiert mich nur das Heute und das Morgen. Ein guter Freund hält mich mit der heutigen Metal-Szene auf dem Laufenden. Mars Volta sind da aktuell mein Favorit. Aber im Fokus habe ich meine musikalischen Visionen und versuche soviel Jazz und klassische Musik zu hören, wie es eben geht. Hey: Ich mag deinen Ausdruck 'bizarrer Einfluss' – ich bin einfach ich selbst!
vw: Wenn du zurückblickst in deine guten und schlechten Zeiten, welche zehn Alben hörst du immer wieder?
Colin Towns: Mehr als zehn, ich versuche sie in zehn Schubladen zu packen:
1. Miles Davis/Gil Evans: "Miles Ahead", "Sketches Of Spain", "Porgy And Bess". Das ist einfach meisterlich!
2. Charles Mingus: "Let My Children Hear Music". Ich habe die Platte in den Mittsiebzigern aus zweiter Hand gekauft, und ich denke, ich werde nie müde, sie zu hören.
3. Don Ellis: "Electric Bath". Don Ellis ist einer der meistunterschätzten Komponisten. Tragischerweise war sein Leben nur kurz.
4. Bill Evans: "How My Heart Sings". Die Gefühle, die diese Musik in mir weckt, werden wohl nie versiegen.
5. Debussy! Alles von Debussy.
6. Benjamin Britten: "Peter Grimes".
7. Stravinsky: "Rite Of Spring". Filmkomponisten suchen, aus welchem Grund auch immer, die große Ego-Massage. Stravinsky war ein Genie.
8. John Coltrane: "Crescent". Zwei Jahre lang schlief ich auf dem Sofa eines Freundes. Immer wenn wir in den frühen Morgenstunden heimkamen, spielten wir diese Platte. Oder Sonny Rollins.
9. David Bowie! Alles von David Bowie.
10. Elton John: "Goodbye Yellow Brick Road". Brillante Songs!
vw: Danke, Colin! [vw:Â @@@@@]
Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:
<#624: Ian Gillan "One Eye To Morocco"> [vw:Â @@@]
<#509: Billy Cobham · Colin Towns · HR Big Band "Meeting Of The Spirits"> [sal: @@@]
@@@@@ - potentieller Meilenstein: Starlight
@@@@ - definitives Highlight: Highlight
@@@ - erfreuliche Delikatesse: Delight
@@ - solides Handwerk: Solidlight
@ - verzichtbarer Ausschuss: Nolight
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