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[ << | Inhalt | >> ]Ausgabe #417 vom 20.12.2004
Rubrik Feature

Odetta im Interview

Die große amerikanische Folk- und Bluessängerin Odetta hat seit den 1950er Jahren mit ihrer kraftvollen, beseelten Stimme nicht nur zahlreiche Künstler von Bob Dylan bis Cassandra Wilson beeinflusst, sondern sich zeitlebens auch für die Bürgerrechte in ihrer Heimat engagiert. Zur Zeit tourt sie mit ihrem "Christmas Spirituals"-Programm durch die Republik, begleitet wird sie von dem superben Pianisten Seth Farber. Wer die Chance hat sie zu sehen: Unbedingt hingehen! Ein Erlebnis, das auch Atheisten gläubig macht!
Im Folgenden ein Interview mit der 73-jährigen, welches ich per Telefon führen durfte. Im Vorfeld warnte mich ihr Promoter, Odetta sei 'etwas schwierig' und lasse gerne die legendäre Diva raushängen. Ich muss mit einer anderen Person gesprochen haben: Genauso offen, warmherzig und humorvoll wie sie im Konzert wirkt, ist sie auch im Gespräch.

Peter Gruner [pg]: Die Spirituals, die sie singen, beruhen auf der Erfahrung der Sklaverei. Trotzdem berühren sie auch Menschen, die nie mit Unterdrückung in dieser Form konfrontiert wurden.
Odetta: In der Sklaverei war man in einer sehr harten Situation gefangen und man konnte nichts dagegen tun, außer mit der eigenen Seele. Man hielt sich an alles Positive, was man finden konnte. Wie Sie vielleicht gemerkt haben, sind die meisten Christmas-Spirituals sehr freudig. Sie haben die Situation nicht verändert, aber sie ließen die Leute sich besser fühlen, in dem sie eine positive Sichtweise in ihre Religion brachten.

pg: Und das spricht die Menschen heute noch an?
Odetta: Ich glaube jeder hat eine gewisse Traurigkeit in sich, egal woher man kommt. Und Lieder zu hören, die auf Traurigkeit begründet sind, dabei aber Freude verbreiten, scheint uns zu ermutigen und unsere Seele zu erheben.

pg: Sie scheinen sich total mit den Charakteren der Lieder, die sie singen zu identifizieren, so als würden sie in sie hineinkriechen und ihr Innerstes umkrempeln.
Odetta: Ich glaube, das macht die Vorstellungskraft. Ich meine, ich war kein Sklave, aber ich kann mir meine Ahnen vorstellen, was sie durchgemacht haben und die Einstellung, die sie gehabt haben mögen, indem ich auf die Worte achte und auf das, was die Musik erzählt. Es ist gut, wenn ich das Kind sein kann, das das Lied singt, oder auch ein Mann. Tatsächlich bin ich geschlechtslos, wenn ich singe.

pg: Die meisten Songs in ihrem Repertoire sind sehr alt. Was bedeutet ihnen Tradition?
Odetta: Die Lieder und Geschichten, die von ehemaligen Sklaven und Familien gesammelt wurden, haben mir die afroamerikanische Geschichte nahegebracht. Sie haben uns das nicht in der Schule gelehrt. Also lernte ich durch die Musik, woher ich komme. Und ich lernte, wie stark, wie clever und weise wir sind. Das macht mich stolz. Die Geschichte ist mein Ãœberlebenspaket.

pg: Man hat sie das "Soziale Gewissen" der USA genannt. Gefällt ihnen dieses Etikett?
Odetta: Ich finde das ein wenig übertrieben. Ich würde diese Bezeichnung nie für mich verwenden. Aber es ist besser, als niedergemacht zu werden, oder? (lacht)

pg: In den 1960er Jahren engagierten sie sich sehr für die Bürgerrechtsbewegung. Sind sie zufrieden, mit dem was sie erreicht haben?
Odetta: Nein. Es sieht so aus, als hätten wir ein bischen was erreicht, aber es sind Leute an der Macht, die alles wieder zunichte machen. Was mein Land betrifft, so habe Ich derzeit ein sehr schlechtes Gefühl. Sie haben eine sehr clevere Art gefunden, die Menschen um ihr rechtschaffendes Leben zu betrügen, sie um Nahrung und Medizin zu bringen. Sie machen das mit den alten Leuten, genauso wie mit den jungen. Ich befürchte, wir leben in sehr, sehr harten Zeiten. Als wir in den 50er und 60er Jahren für die Bürgerrechte kämpften, konnten wir uns nicht vorstellen, dass es einmal ein Gesetz geben würde, das uns unsere Rechte wieder nimmt. Wir müssen neue Wege in der Politik finden, um die Leute, die zu uns stehen in die Ämter zu bekommen. So viele sind so enttäuscht von der letzten Wahl.

pg: Sie haben für John F. Kennedy gesungen. Würden sie auch für Präsident Bush singen?
Odetta: Ich glaube nicht. So gnädig bin ich nicht. Er hat Männer und Frauen in die Ämter gesetzt, die zerstören wollen, was bereits geschaffen wurde. Kennen sie den amerikanischen Sinnspruch "Du kannst einen Fuchs nicht den Hühnerstall bewachen lassen?" Ich glaube, er hat zu viele Füchse eingesetzt, die das Hühnerhaus angreifen. Ich könnte nicht für ihn singen, denn ich bin mit seiner Politik nicht einverstanden.

pg: Ist es notwendig für einen Musiker, sich in den politischen Prozess einzuklinken?
Odetta: Solange er ein Bürger des Landes ist, ist es nicht nur notwendig, sondern seine absolute Pflicht. Wenn man kein politischer Mensch ist, okay. Aber wenn man merkt, dass die Politik in das eigene Leben eingreift, dann muss man Verantwortung übernehmen, auf die Art, die einem möglich ist.

pg: Andere Leute in ihrem Alter lehnen sich zurück und ernten die Früchte ihrer Arbeit, während sie immer noch fleißig um die Welt reisen. Was treibt sie an?
Odetta: Die Musik und ihre Geschichte. Die möchte ich so vielen Menschen wie möglich nahebringen.
(Erstveröffentlichung in den Nürnberger Nachrichten) [pg]


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